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Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 2. Tübingen, 1810.

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einem solchen, der für sich und andre Sicherheit will,
sucht und findet. Seine Schriften zeugen von großer
Ruhe, Besonnenheit und Klarheit. Er schätzt die Au-
torität, verkennt aber nicht das Verworrene und
Schwankende der Ueberlieferung. Er ist überzeugt von
der Möglichkeit einer Einsicht in Sinnliches und Ueber-
sinnliches, Weltliches und Göttliches.

Zuvörderst weiß er das Zeugniß der Sinne gehö-
rig anzuerkennen; doch bleibt ihm nicht unbewußt, daß
die Natur dem bloß sinnlichen Menschen vieles verberge.
Er wünscht daher tiefer einzudringen und wird gewahr,
daß er die Kräfte und Mittel hiezu in seinem eigenen
Geiste suchen muß. Hier begegnet seinem kindlichen
Sinne die Mathematik als ein einfaches, eingebornes,
aus ihm selbst hervorspringendes Werkzeug, welches er
um so mehr ergreift, als man schon so lange alles Ei-
gene vernachlässigt, die Ueberlieferung auf eine seltsame
Weise übereinander gehäuft und sie dadurch gewisser-
maßen in sich selbst zerstört hatte.

Er gebraucht nunmehr sein Organ, um die Vor-
gänger zu beurtheilen, die Natur zu betasten, und zu-
frieden mit der Weise, nach der ihm manches gelingt,
erklärt er die Mathematik zu dem Hauptschlüssel aller
wissenschaftlichen Verborgenheiten.

Je nachdem nun die Gegenstände sind, mit wel-
chen er sich beschäftigt, danach ist auch das Gelingen.
In den einfachsten physischen Fällen löst die Formel das

einem ſolchen, der fuͤr ſich und andre Sicherheit will,
ſucht und findet. Seine Schriften zeugen von großer
Ruhe, Beſonnenheit und Klarheit. Er ſchaͤtzt die Au-
toritaͤt, verkennt aber nicht das Verworrene und
Schwankende der Ueberlieferung. Er iſt uͤberzeugt von
der Moͤglichkeit einer Einſicht in Sinnliches und Ueber-
ſinnliches, Weltliches und Goͤttliches.

Zuvoͤrderſt weiß er das Zeugniß der Sinne gehoͤ-
rig anzuerkennen; doch bleibt ihm nicht unbewußt, daß
die Natur dem bloß ſinnlichen Menſchen vieles verberge.
Er wuͤnſcht daher tiefer einzudringen und wird gewahr,
daß er die Kraͤfte und Mittel hiezu in ſeinem eigenen
Geiſte ſuchen muß. Hier begegnet ſeinem kindlichen
Sinne die Mathematik als ein einfaches, eingebornes,
aus ihm ſelbſt hervorſpringendes Werkzeug, welches er
um ſo mehr ergreift, als man ſchon ſo lange alles Ei-
gene vernachlaͤſſigt, die Ueberlieferung auf eine ſeltſame
Weiſe uͤbereinander gehaͤuft und ſie dadurch gewiſſer-
maßen in ſich ſelbſt zerſtoͤrt hatte.

Er gebraucht nunmehr ſein Organ, um die Vor-
gaͤnger zu beurtheilen, die Natur zu betaſten, und zu-
frieden mit der Weiſe, nach der ihm manches gelingt,
erklaͤrt er die Mathematik zu dem Hauptſchluͤſſel aller
wiſſenſchaftlichen Verborgenheiten.

Je nachdem nun die Gegenſtaͤnde ſind, mit wel-
chen er ſich beſchaͤftigt, danach iſt auch das Gelingen.
In den einfachſten phyſiſchen Faͤllen loͤſt die Formel das

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[150/0184] einem ſolchen, der fuͤr ſich und andre Sicherheit will, ſucht und findet. Seine Schriften zeugen von großer Ruhe, Beſonnenheit und Klarheit. Er ſchaͤtzt die Au- toritaͤt, verkennt aber nicht das Verworrene und Schwankende der Ueberlieferung. Er iſt uͤberzeugt von der Moͤglichkeit einer Einſicht in Sinnliches und Ueber- ſinnliches, Weltliches und Goͤttliches. Zuvoͤrderſt weiß er das Zeugniß der Sinne gehoͤ- rig anzuerkennen; doch bleibt ihm nicht unbewußt, daß die Natur dem bloß ſinnlichen Menſchen vieles verberge. Er wuͤnſcht daher tiefer einzudringen und wird gewahr, daß er die Kraͤfte und Mittel hiezu in ſeinem eigenen Geiſte ſuchen muß. Hier begegnet ſeinem kindlichen Sinne die Mathematik als ein einfaches, eingebornes, aus ihm ſelbſt hervorſpringendes Werkzeug, welches er um ſo mehr ergreift, als man ſchon ſo lange alles Ei- gene vernachlaͤſſigt, die Ueberlieferung auf eine ſeltſame Weiſe uͤbereinander gehaͤuft und ſie dadurch gewiſſer- maßen in ſich ſelbſt zerſtoͤrt hatte. Er gebraucht nunmehr ſein Organ, um die Vor- gaͤnger zu beurtheilen, die Natur zu betaſten, und zu- frieden mit der Weiſe, nach der ihm manches gelingt, erklaͤrt er die Mathematik zu dem Hauptſchluͤſſel aller wiſſenſchaftlichen Verborgenheiten. Je nachdem nun die Gegenſtaͤnde ſind, mit wel- chen er ſich beſchaͤftigt, danach iſt auch das Gelingen. In den einfachſten phyſiſchen Faͤllen loͤſt die Formel das

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 2. Tübingen, 1810, S. 150. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_farbenlehre02_1810/184>, abgerufen am 29.03.2024.