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Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 2. Tübingen, 1810.

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Autorität zuschreiben: denn er bringt nur immer seines
Gleichen hervor; so wie denn offenbar aller Verstandes-
Unterricht zur Anarchie führt.

Gegen die Autorität verhält sich der Mensch, so
wie gegen vieles andere, beständig schwankend. Er
fühlt in seiner Dürftigkeit, daß er, ohne sich auf etwas
Drittes stützen, mit seinen Kräften nicht auslangt.
Dann aber, wenn das Gefühl seiner Macht und
Herrlichkeit in ihm aufgeht, stößt er das Hülfreiche
von sich und glaubt für sich selbst und andre hinzu-
reichen.

Das Kind bequemt sich meist mit Ergebung unter
die Autorität der Aeltern; der Knabe sträubt sich dage-
gen; der Jüngling entflieht ihr, und der Mann läßt
sie wieder gelten, weil er sich deren mehr oder weniger
selbst verschafft, weil die Erfahrung ihn gelehrt hat,
daß er ohne Mitwirkung anderer doch nur wenig aus-
richte.

Eben so schwankt die Menschheit im Ganzen.
Bald sehen wir um einen vorzüglichen Mann sich
Freunde, Schüler, Anhänger, Begleiter, Mitlebende,
Mitwohnende, Mitstreitende versammeln. Bald fällt
eine solche Gesellschaft, ein solches Reich wieder in vie-
lerley Einzelnheiten auseinander. Bald werden Monu-
mente älterer Zeiten, Documente früherer Gesinnungen,
göttlich verehrt, buchstäblich aufgenommen; Jedermann
gibt seine Sinne, seinen Verstand darunter gefangen;

II. 10

Autoritaͤt zuſchreiben: denn er bringt nur immer ſeines
Gleichen hervor; ſo wie denn offenbar aller Verſtandes-
Unterricht zur Anarchie fuͤhrt.

Gegen die Autoritaͤt verhaͤlt ſich der Menſch, ſo
wie gegen vieles andere, beſtaͤndig ſchwankend. Er
fuͤhlt in ſeiner Duͤrftigkeit, daß er, ohne ſich auf etwas
Drittes ſtuͤtzen, mit ſeinen Kraͤften nicht auslangt.
Dann aber, wenn das Gefuͤhl ſeiner Macht und
Herrlichkeit in ihm aufgeht, ſtoͤßt er das Huͤlfreiche
von ſich und glaubt fuͤr ſich ſelbſt und andre hinzu-
reichen.

Das Kind bequemt ſich meiſt mit Ergebung unter
die Autoritaͤt der Aeltern; der Knabe ſtraͤubt ſich dage-
gen; der Juͤngling entflieht ihr, und der Mann laͤßt
ſie wieder gelten, weil er ſich deren mehr oder weniger
ſelbſt verſchafft, weil die Erfahrung ihn gelehrt hat,
daß er ohne Mitwirkung anderer doch nur wenig aus-
richte.

Eben ſo ſchwankt die Menſchheit im Ganzen.
Bald ſehen wir um einen vorzuͤglichen Mann ſich
Freunde, Schuͤler, Anhaͤnger, Begleiter, Mitlebende,
Mitwohnende, Mitſtreitende verſammeln. Bald faͤllt
eine ſolche Geſellſchaft, ein ſolches Reich wieder in vie-
lerley Einzelnheiten auseinander. Bald werden Monu-
mente aͤlterer Zeiten, Documente fruͤherer Geſinnungen,
goͤttlich verehrt, buchſtaͤblich aufgenommen; Jedermann
gibt ſeine Sinne, ſeinen Verſtand darunter gefangen;

II. 10
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[145/0179] Autoritaͤt zuſchreiben: denn er bringt nur immer ſeines Gleichen hervor; ſo wie denn offenbar aller Verſtandes- Unterricht zur Anarchie fuͤhrt. Gegen die Autoritaͤt verhaͤlt ſich der Menſch, ſo wie gegen vieles andere, beſtaͤndig ſchwankend. Er fuͤhlt in ſeiner Duͤrftigkeit, daß er, ohne ſich auf etwas Drittes ſtuͤtzen, mit ſeinen Kraͤften nicht auslangt. Dann aber, wenn das Gefuͤhl ſeiner Macht und Herrlichkeit in ihm aufgeht, ſtoͤßt er das Huͤlfreiche von ſich und glaubt fuͤr ſich ſelbſt und andre hinzu- reichen. Das Kind bequemt ſich meiſt mit Ergebung unter die Autoritaͤt der Aeltern; der Knabe ſtraͤubt ſich dage- gen; der Juͤngling entflieht ihr, und der Mann laͤßt ſie wieder gelten, weil er ſich deren mehr oder weniger ſelbſt verſchafft, weil die Erfahrung ihn gelehrt hat, daß er ohne Mitwirkung anderer doch nur wenig aus- richte. Eben ſo ſchwankt die Menſchheit im Ganzen. Bald ſehen wir um einen vorzuͤglichen Mann ſich Freunde, Schuͤler, Anhaͤnger, Begleiter, Mitlebende, Mitwohnende, Mitſtreitende verſammeln. Bald faͤllt eine ſolche Geſellſchaft, ein ſolches Reich wieder in vie- lerley Einzelnheiten auseinander. Bald werden Monu- mente aͤlterer Zeiten, Documente fruͤherer Geſinnungen, goͤttlich verehrt, buchſtaͤblich aufgenommen; Jedermann gibt ſeine Sinne, ſeinen Verſtand darunter gefangen; II. 10

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 2. Tübingen, 1810, S. 145. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_farbenlehre02_1810/179>, abgerufen am 28.03.2024.