Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 2. Tübingen, 1810.

Bild:
<< vorherige Seite

Mäßigkeit genießen und zugleich den verderblichen und
zerstörenden Naturwirkungen mit Ruhe und Ergebung
entgegensehen; in sofern erscheint er höchst ehrwürdig,
und da er einmal von der Redekunst herkommt, auch
nicht außer seinem Kreise.

Unleidlich wird er aber, ja lächerlich, wenn er
oft, und gewöhnlich zur Unzeit, gegen den Luxus und
die verderbten Sitten der Römer loszieht. Man sieht
diesen Stellen ganz deutlich an, daß die Redekunst
aus dem Leben sich in die Schulen und Hörsäle zurück-
gezogen hat: denn in solchen Fällen finden wir meist
bey ihm wo nicht leere doch unnütze Declamationen,
die, wie man deutlich sieht, bloß daher kommen, daß
der Philosoph sich über sein Zeitalter nicht erheben
kann. Doch ist dieses das Schicksal fast seiner ganzen
Nation.

Die Römer waren aus einem engen, sittlichen,
bequemen, behaglichen, bürgerlichen Zustand zur gro-
ßen Breite der Weltherrschaft gelangt, ohne ihre Be-
schränktheit abzulegen; selbst das, was man an ihnen
als Freyheitssinn schätzt, ist nur ein bornirtes Wesen.
Sie waren Könige geworden und wollten nach wie vor
Hausväter, Gatten, Freunde bleiben; und wie wenig
selbst die besseren begriffen, was Regieren heißt, sieht
man an der abgeschmacktesten That, die jemals began-
gen worden, an der Ermordung Cäsars.

Aus eben dieser Quelle läßt sich ihr Luxus herlei-
ten. Ungebildete Menschen, die zu großem Vermögen

Maͤßigkeit genießen und zugleich den verderblichen und
zerſtoͤrenden Naturwirkungen mit Ruhe und Ergebung
entgegenſehen; in ſofern erſcheint er hoͤchſt ehrwuͤrdig,
und da er einmal von der Redekunſt herkommt, auch
nicht außer ſeinem Kreiſe.

Unleidlich wird er aber, ja laͤcherlich, wenn er
oft, und gewoͤhnlich zur Unzeit, gegen den Luxus und
die verderbten Sitten der Roͤmer loszieht. Man ſieht
dieſen Stellen ganz deutlich an, daß die Redekunſt
aus dem Leben ſich in die Schulen und Hoͤrſaͤle zuruͤck-
gezogen hat: denn in ſolchen Faͤllen finden wir meiſt
bey ihm wo nicht leere doch unnuͤtze Declamationen,
die, wie man deutlich ſieht, bloß daher kommen, daß
der Philoſoph ſich uͤber ſein Zeitalter nicht erheben
kann. Doch iſt dieſes das Schickſal faſt ſeiner ganzen
Nation.

Die Roͤmer waren aus einem engen, ſittlichen,
bequemen, behaglichen, buͤrgerlichen Zuſtand zur gro-
ßen Breite der Weltherrſchaft gelangt, ohne ihre Be-
ſchraͤnktheit abzulegen; ſelbſt das, was man an ihnen
als Freyheitsſinn ſchaͤtzt, iſt nur ein bornirtes Weſen.
Sie waren Koͤnige geworden und wollten nach wie vor
Hausvaͤter, Gatten, Freunde bleiben; und wie wenig
ſelbſt die beſſeren begriffen, was Regieren heißt, ſieht
man an der abgeſchmackteſten That, die jemals began-
gen worden, an der Ermordung Caͤſars.

Aus eben dieſer Quelle laͤßt ſich ihr Luxus herlei-
ten. Ungebildete Menſchen, die zu großem Vermoͤgen

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0160" n="126"/>
Ma&#x0364;ßigkeit genießen und zugleich den verderblichen und<lb/>
zer&#x017F;to&#x0364;renden Naturwirkungen mit Ruhe und Ergebung<lb/>
entgegen&#x017F;ehen; in &#x017F;ofern er&#x017F;cheint er ho&#x0364;ch&#x017F;t ehrwu&#x0364;rdig,<lb/>
und da er einmal von der Redekun&#x017F;t herkommt, auch<lb/>
nicht außer &#x017F;einem Krei&#x017F;e.</p><lb/>
          <p>Unleidlich wird er aber, ja la&#x0364;cherlich, wenn er<lb/>
oft, und gewo&#x0364;hnlich zur Unzeit, gegen den Luxus und<lb/>
die verderbten Sitten der Ro&#x0364;mer loszieht. Man &#x017F;ieht<lb/>
die&#x017F;en Stellen ganz deutlich an, daß die Redekun&#x017F;t<lb/>
aus dem Leben &#x017F;ich in die Schulen und Ho&#x0364;r&#x017F;a&#x0364;le zuru&#x0364;ck-<lb/>
gezogen hat: denn in &#x017F;olchen Fa&#x0364;llen finden wir mei&#x017F;t<lb/>
bey ihm wo nicht leere doch unnu&#x0364;tze Declamationen,<lb/>
die, wie man deutlich &#x017F;ieht, bloß daher kommen, daß<lb/>
der Philo&#x017F;oph &#x017F;ich u&#x0364;ber &#x017F;ein Zeitalter nicht erheben<lb/>
kann. Doch i&#x017F;t die&#x017F;es das Schick&#x017F;al fa&#x017F;t &#x017F;einer ganzen<lb/>
Nation.</p><lb/>
          <p>Die Ro&#x0364;mer waren aus einem engen, &#x017F;ittlichen,<lb/>
bequemen, behaglichen, bu&#x0364;rgerlichen Zu&#x017F;tand zur gro-<lb/>
ßen Breite der Weltherr&#x017F;chaft gelangt, ohne ihre Be-<lb/>
&#x017F;chra&#x0364;nktheit abzulegen; &#x017F;elb&#x017F;t das, was man an ihnen<lb/>
als Freyheits&#x017F;inn &#x017F;cha&#x0364;tzt, i&#x017F;t nur ein bornirtes We&#x017F;en.<lb/>
Sie waren Ko&#x0364;nige geworden und wollten nach wie vor<lb/>
Hausva&#x0364;ter, Gatten, Freunde bleiben; und wie wenig<lb/>
&#x017F;elb&#x017F;t die be&#x017F;&#x017F;eren begriffen, was Regieren heißt, &#x017F;ieht<lb/>
man an der abge&#x017F;chmackte&#x017F;ten That, die jemals began-<lb/>
gen worden, an der Ermordung Ca&#x0364;&#x017F;ars.</p><lb/>
          <p>Aus eben die&#x017F;er Quelle la&#x0364;ßt &#x017F;ich ihr Luxus herlei-<lb/>
ten. Ungebildete Men&#x017F;chen, die zu großem Vermo&#x0364;gen<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[126/0160] Maͤßigkeit genießen und zugleich den verderblichen und zerſtoͤrenden Naturwirkungen mit Ruhe und Ergebung entgegenſehen; in ſofern erſcheint er hoͤchſt ehrwuͤrdig, und da er einmal von der Redekunſt herkommt, auch nicht außer ſeinem Kreiſe. Unleidlich wird er aber, ja laͤcherlich, wenn er oft, und gewoͤhnlich zur Unzeit, gegen den Luxus und die verderbten Sitten der Roͤmer loszieht. Man ſieht dieſen Stellen ganz deutlich an, daß die Redekunſt aus dem Leben ſich in die Schulen und Hoͤrſaͤle zuruͤck- gezogen hat: denn in ſolchen Faͤllen finden wir meiſt bey ihm wo nicht leere doch unnuͤtze Declamationen, die, wie man deutlich ſieht, bloß daher kommen, daß der Philoſoph ſich uͤber ſein Zeitalter nicht erheben kann. Doch iſt dieſes das Schickſal faſt ſeiner ganzen Nation. Die Roͤmer waren aus einem engen, ſittlichen, bequemen, behaglichen, buͤrgerlichen Zuſtand zur gro- ßen Breite der Weltherrſchaft gelangt, ohne ihre Be- ſchraͤnktheit abzulegen; ſelbſt das, was man an ihnen als Freyheitsſinn ſchaͤtzt, iſt nur ein bornirtes Weſen. Sie waren Koͤnige geworden und wollten nach wie vor Hausvaͤter, Gatten, Freunde bleiben; und wie wenig ſelbſt die beſſeren begriffen, was Regieren heißt, ſieht man an der abgeſchmackteſten That, die jemals began- gen worden, an der Ermordung Caͤſars. Aus eben dieſer Quelle laͤßt ſich ihr Luxus herlei- ten. Ungebildete Menſchen, die zu großem Vermoͤgen

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_farbenlehre02_1810
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_farbenlehre02_1810/160
Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 2. Tübingen, 1810, S. 126. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_farbenlehre02_1810/160>, abgerufen am 19.04.2024.