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Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 2. Tübingen, 1810.

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Man sagt, Polygnot und sein Zeitgenosse Mikon
hätten sich zuerst des lichten Ockers zum Malen be-
dient. Nimmt man diese Nachricht in dem Sinne,
als hätten diese Künstler die erwähnte Farbe unver-
mischt zum Anstrich von Gewändern gebraucht, so er-
hellt daraus eben das vorhin bemerkte sorgfältige Be-
streben nach Mannigfaltigkeit, Abwechselung und Far-
benreiz. Will man aber gar zugeben, sie hätten,
was nicht unwahrscheinlich ist, durch Vermischung
dieser Farbe mit Roth und Weiß, die genauere Nach-
ahmung der Wahrheit in Darstellung der nackten Theile
ihrer Figuren, besonders der weiblichen, erzwecken
wollen; so war die Kunst der Malerey bereits auf
dem Wege, der sie ihrer vollkommen Entwicklung
zuführen mußte. Es ist vielleicht hier der schicklichste
Ort, beyzubringen, daß, ebenfalls einer Nachricht des
Plinius zufolge, nicht lange vor dieser Zeit auch die
Farbe des Zinnobers erfunden wurde.

Von Panänus, des Phidias Bruder, einem Zeit-
und Kunstgenossen des Polygnot, wissen wir aus
Nachrichten des Plinius und Pausanias, daß er in
der Poekile zu Athen die Schlacht bey Marathon ge-
malt, und zwar, wie aus eben diesen Nach-
richten zu vermuthen ist, mit mancherley Farben.
Auch sollen die Figuren der Feldherren, sowohl der
Griechen als Perser, wirkliche Bildnisse dargestellt ha-
ben. Man sieht also offenbar das damalige lebhafte
Bemühen der Maler, ihren Werken Wahrheit zu ge-
ben. Dieses Bemühen aber mußte vornehmlich Farbe

Man ſagt, Polygnot und ſein Zeitgenoſſe Mikon
haͤtten ſich zuerſt des lichten Ockers zum Malen be-
dient. Nimmt man dieſe Nachricht in dem Sinne,
als haͤtten dieſe Kuͤnſtler die erwaͤhnte Farbe unver-
miſcht zum Anſtrich von Gewaͤndern gebraucht, ſo er-
hellt daraus eben das vorhin bemerkte ſorgfaͤltige Be-
ſtreben nach Mannigfaltigkeit, Abwechſelung und Far-
benreiz. Will man aber gar zugeben, ſie haͤtten,
was nicht unwahrſcheinlich iſt, durch Vermiſchung
dieſer Farbe mit Roth und Weiß, die genauere Nach-
ahmung der Wahrheit in Darſtellung der nackten Theile
ihrer Figuren, beſonders der weiblichen, erzwecken
wollen; ſo war die Kunſt der Malerey bereits auf
dem Wege, der ſie ihrer vollkommen Entwicklung
zufuͤhren mußte. Es iſt vielleicht hier der ſchicklichſte
Ort, beyzubringen, daß, ebenfalls einer Nachricht des
Plinius zufolge, nicht lange vor dieſer Zeit auch die
Farbe des Zinnobers erfunden wurde.

Von Panaͤnus, des Phidias Bruder, einem Zeit-
und Kunſtgenoſſen des Polygnot, wiſſen wir aus
Nachrichten des Plinius und Pauſanias, daß er in
der Poekile zu Athen die Schlacht bey Marathon ge-
malt, und zwar, wie aus eben dieſen Nach-
richten zu vermuthen iſt, mit mancherley Farben.
Auch ſollen die Figuren der Feldherren, ſowohl der
Griechen als Perſer, wirkliche Bildniſſe dargeſtellt ha-
ben. Man ſieht alſo offenbar das damalige lebhafte
Bemuͤhen der Maler, ihren Werken Wahrheit zu ge-
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[76/0110] Man ſagt, Polygnot und ſein Zeitgenoſſe Mikon haͤtten ſich zuerſt des lichten Ockers zum Malen be- dient. Nimmt man dieſe Nachricht in dem Sinne, als haͤtten dieſe Kuͤnſtler die erwaͤhnte Farbe unver- miſcht zum Anſtrich von Gewaͤndern gebraucht, ſo er- hellt daraus eben das vorhin bemerkte ſorgfaͤltige Be- ſtreben nach Mannigfaltigkeit, Abwechſelung und Far- benreiz. Will man aber gar zugeben, ſie haͤtten, was nicht unwahrſcheinlich iſt, durch Vermiſchung dieſer Farbe mit Roth und Weiß, die genauere Nach- ahmung der Wahrheit in Darſtellung der nackten Theile ihrer Figuren, beſonders der weiblichen, erzwecken wollen; ſo war die Kunſt der Malerey bereits auf dem Wege, der ſie ihrer vollkommen Entwicklung zufuͤhren mußte. Es iſt vielleicht hier der ſchicklichſte Ort, beyzubringen, daß, ebenfalls einer Nachricht des Plinius zufolge, nicht lange vor dieſer Zeit auch die Farbe des Zinnobers erfunden wurde. Von Panaͤnus, des Phidias Bruder, einem Zeit- und Kunſtgenoſſen des Polygnot, wiſſen wir aus Nachrichten des Plinius und Pauſanias, daß er in der Poekile zu Athen die Schlacht bey Marathon ge- malt, und zwar, wie aus eben dieſen Nach- richten zu vermuthen iſt, mit mancherley Farben. Auch ſollen die Figuren der Feldherren, ſowohl der Griechen als Perſer, wirkliche Bildniſſe dargeſtellt ha- ben. Man ſieht alſo offenbar das damalige lebhafte Bemuͤhen der Maler, ihren Werken Wahrheit zu ge- ben. Dieſes Bemuͤhen aber mußte vornehmlich Farbe

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 2. Tübingen, 1810, S. 76. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_farbenlehre02_1810/110>, abgerufen am 26.04.2024.