nen den Himmel rosenfarb und die Rose blau, oder umgekehrt. Nun fragt sich: sehen sie beydes blau, oder beydes rosenfarb? sehen sie das Grün orange, oder das Orange grün?
111.
Diese seltsamen Räthsel scheinen sich zu lösen, wenn man annimmt, daß sie kein Blau, sondern an dessen Statt einen diluirten Purpur, ein Rosenfarb, ein hel- les reines Roth sehen. Symbolisch kann man sich diese Lösung einstweilen folgendermaßen vorstellen.
112.
Nehmen wir aus unserm Farbenkreise das Blaue heraus, so fehlt uns Blau, Violet und Grün. Das reine Roth verbreitet sich an der Stelle der beyden ersten, und wenn es wieder das Gelbe berührt, bringt es anstatt des Grünen abermals ein Orange hervor.
113.
Indem wir uns von dieser Erklärungsart über- zeugt halten, haben wir diese merkwürdige Abweichung vom gewöhnlichen Sehen Akyanoblepsie genannt, und zu besserer Einsicht mehrere Figuren gezeichnet und illuminirt, bey deren Erklärung wir künftig das Wei- tre beyzubringen gedenken. Auch findet man daselbst eine Landschaft, gefärbt nach der Weise, wie diese Menschen wahrscheinlich die Natur sehen, den Himmel rosenfarb und alles Grüne in Tönen vom Gelben bis zum Braunrothen, ungefähr wie es uns im Herbst erscheint.
nen den Himmel roſenfarb und die Roſe blau, oder umgekehrt. Nun fragt ſich: ſehen ſie beydes blau, oder beydes roſenfarb? ſehen ſie das Gruͤn orange, oder das Orange gruͤn?
111.
Dieſe ſeltſamen Raͤthſel ſcheinen ſich zu loͤſen, wenn man annimmt, daß ſie kein Blau, ſondern an deſſen Statt einen diluirten Purpur, ein Roſenfarb, ein hel- les reines Roth ſehen. Symboliſch kann man ſich dieſe Loͤſung einſtweilen folgendermaßen vorſtellen.
112.
Nehmen wir aus unſerm Farbenkreiſe das Blaue heraus, ſo fehlt uns Blau, Violet und Gruͤn. Das reine Roth verbreitet ſich an der Stelle der beyden erſten, und wenn es wieder das Gelbe beruͤhrt, bringt es anſtatt des Gruͤnen abermals ein Orange hervor.
113.
Indem wir uns von dieſer Erklaͤrungsart uͤber- zeugt halten, haben wir dieſe merkwuͤrdige Abweichung vom gewoͤhnlichen Sehen Akyanoblepſie genannt, und zu beſſerer Einſicht mehrere Figuren gezeichnet und illuminirt, bey deren Erklaͤrung wir kuͤnftig das Wei- tre beyzubringen gedenken. Auch findet man daſelbſt eine Landſchaft, gefaͤrbt nach der Weiſe, wie dieſe Menſchen wahrſcheinlich die Natur ſehen, den Himmel roſenfarb und alles Gruͤne in Toͤnen vom Gelben bis zum Braunrothen, ungefaͤhr wie es uns im Herbſt erſcheint.
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nen den Himmel roſenfarb und die Roſe blau, oder
umgekehrt. Nun fragt ſich: ſehen ſie beydes blau,
oder beydes roſenfarb? ſehen ſie das Gruͤn orange,
oder das Orange gruͤn?
111.
Dieſe ſeltſamen Raͤthſel ſcheinen ſich zu loͤſen, wenn
man annimmt, daß ſie kein Blau, ſondern an deſſen
Statt einen diluirten Purpur, ein Roſenfarb, ein hel-
les reines Roth ſehen. Symboliſch kann man ſich dieſe
Loͤſung einſtweilen folgendermaßen vorſtellen.
112.
Nehmen wir aus unſerm Farbenkreiſe das Blaue
heraus, ſo fehlt uns Blau, Violet und Gruͤn. Das
reine Roth verbreitet ſich an der Stelle der beyden
erſten, und wenn es wieder das Gelbe beruͤhrt, bringt
es anſtatt des Gruͤnen abermals ein Orange hervor.
113.
Indem wir uns von dieſer Erklaͤrungsart uͤber-
zeugt halten, haben wir dieſe merkwuͤrdige Abweichung
vom gewoͤhnlichen Sehen Akyanoblepſie genannt,
und zu beſſerer Einſicht mehrere Figuren gezeichnet und
illuminirt, bey deren Erklaͤrung wir kuͤnftig das Wei-
tre beyzubringen gedenken. Auch findet man daſelbſt
eine Landſchaft, gefaͤrbt nach der Weiſe, wie dieſe
Menſchen wahrſcheinlich die Natur ſehen, den Himmel
roſenfarb und alles Gruͤne in Toͤnen vom Gelben bis
zum Braunrothen, ungefaͤhr wie es uns im Herbſt
erſcheint.
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Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 1. Tübingen, 1810, S. 45. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_farbenlehre01_1810/99>, abgerufen am 22.12.2024.
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