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Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 1. Tübingen, 1810.

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als ein unsicheres und trügliches Kennzeichen bey
chemischen Operationen anzusehen. Doch hoffen wir
sie durch unsere Darstellung und durch die vorge-
schlagene Nomenclatur wieder zu Ehren zu bringen,
und die Ueberzeugung zu erwecken, daß ein Werden-
des, Wachsendes, ein Bewegliches, der Umwen-
dung Fähiges nicht betrüglich sey, vielmehr geschickt,
die zartesten Wirkungen der Natur zu offenbaren.

Blicken wir jedoch weiter umher, so wandelt
uns eine Furcht an, dem Mathematiker zu miß-
fallen. Durch eine sonderbare Verknüpfung von
Umständen ist die Farbenlehre in das Reich, vor
den Gerichtsstuhl des Mathematikers gezogen wor-
den, wohin sie nicht gehört. Dieß geschah we-
gen ihrer Verwandtschaft mit den übrigen Gesetzen
des Sehens, welche der Mathematiker zu behan-
deln eigentlich berufen war. Es geschah ferner
dadurch, daß ein großer Mathematiker die Far-
benlehre bearbeitete, und da er sich als Physiker
geirrt hatte, die ganze Kraft seines Talents auf-
bot, um diesem Irrthum Consistenz zu verschaffen.
Wird beydes eingesehen, so muß jedes Mißver-
ständniß bald gehoben seyn, und der Mathemati-
ker wird gern, besonders die physische Abtheilung
der Farbenlehre, mit bearbeiten helfen.

als ein unſicheres und truͤgliches Kennzeichen bey
chemiſchen Operationen anzuſehen. Doch hoffen wir
ſie durch unſere Darſtellung und durch die vorge-
ſchlagene Nomenclatur wieder zu Ehren zu bringen,
und die Ueberzeugung zu erwecken, daß ein Werden-
des, Wachſendes, ein Bewegliches, der Umwen-
dung Faͤhiges nicht betruͤglich ſey, vielmehr geſchickt,
die zarteſten Wirkungen der Natur zu offenbaren.

Blicken wir jedoch weiter umher, ſo wandelt
uns eine Furcht an, dem Mathematiker zu miß-
fallen. Durch eine ſonderbare Verknuͤpfung von
Umſtaͤnden iſt die Farbenlehre in das Reich, vor
den Gerichtsſtuhl des Mathematikers gezogen wor-
den, wohin ſie nicht gehoͤrt. Dieß geſchah we-
gen ihrer Verwandtſchaft mit den uͤbrigen Geſetzen
des Sehens, welche der Mathematiker zu behan-
deln eigentlich berufen war. Es geſchah ferner
dadurch, daß ein großer Mathematiker die Far-
benlehre bearbeitete, und da er ſich als Phyſiker
geirrt hatte, die ganze Kraft ſeines Talents auf-
bot, um dieſem Irrthum Conſiſtenz zu verſchaffen.
Wird beydes eingeſehen, ſo muß jedes Mißver-
ſtaͤndniß bald gehoben ſeyn, und der Mathemati-
ker wird gern, beſonders die phyſiſche Abtheilung
der Farbenlehre, mit bearbeiten helfen.

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[XLVI/0052] als ein unſicheres und truͤgliches Kennzeichen bey chemiſchen Operationen anzuſehen. Doch hoffen wir ſie durch unſere Darſtellung und durch die vorge- ſchlagene Nomenclatur wieder zu Ehren zu bringen, und die Ueberzeugung zu erwecken, daß ein Werden- des, Wachſendes, ein Bewegliches, der Umwen- dung Faͤhiges nicht betruͤglich ſey, vielmehr geſchickt, die zarteſten Wirkungen der Natur zu offenbaren. Blicken wir jedoch weiter umher, ſo wandelt uns eine Furcht an, dem Mathematiker zu miß- fallen. Durch eine ſonderbare Verknuͤpfung von Umſtaͤnden iſt die Farbenlehre in das Reich, vor den Gerichtsſtuhl des Mathematikers gezogen wor- den, wohin ſie nicht gehoͤrt. Dieß geſchah we- gen ihrer Verwandtſchaft mit den uͤbrigen Geſetzen des Sehens, welche der Mathematiker zu behan- deln eigentlich berufen war. Es geſchah ferner dadurch, daß ein großer Mathematiker die Far- benlehre bearbeitete, und da er ſich als Phyſiker geirrt hatte, die ganze Kraft ſeines Talents auf- bot, um dieſem Irrthum Conſiſtenz zu verſchaffen. Wird beydes eingeſehen, ſo muß jedes Mißver- ſtaͤndniß bald gehoben ſeyn, und der Mathemati- ker wird gern, beſonders die phyſiſche Abtheilung der Farbenlehre, mit bearbeiten helfen.

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 1. Tübingen, 1810, S. XLVI. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_farbenlehre01_1810/52>, abgerufen am 28.04.2024.