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Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 1. Tübingen, 1810.

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wir uns, den Charakter eines Menschen zu schil-
dern; man stelle dagegen seine Handlungen, seine
Thaten zusammen, und ein Bild des Charakters
wird uns entgegentreten.

Die Farben sind Thaten des Lichts, Thaten
und Leiden. In diesem Sinne können wir von
denselben Aufschlüsse über das Licht erwarten. Far-
ben und Licht stehen zwar unter einander in dem ge-
nausten Verhältniß, aber wir müssen uns beyde
als der ganzen Natur angehörig denken: denn sie
ist es ganz, die sich dadurch dem Sinne des Auges
besonders offenbaren will.

Eben so entdeckt sich die ganze Natur einem
anderen Sinne Man schließe das Auge, man
öffne, man schärfe das Ohr, und vom leisesten Hauch
bis zum wildesten Geräusch, vom einfachsten Klang
bis zur höchsten Zusammenstimmung, von dem hef-
tigsten leidenschaftlichen Schrey bis zum sanftesten
Worte der Vernunft ist es nur die Natur, die

wir uns, den Charakter eines Menſchen zu ſchil-
dern; man ſtelle dagegen ſeine Handlungen, ſeine
Thaten zuſammen, und ein Bild des Charakters
wird uns entgegentreten.

Die Farben ſind Thaten des Lichts, Thaten
und Leiden. In dieſem Sinne koͤnnen wir von
denſelben Aufſchluͤſſe uͤber das Licht erwarten. Far-
ben und Licht ſtehen zwar unter einander in dem ge-
nauſten Verhaͤltniß, aber wir muͤſſen uns beyde
als der ganzen Natur angehoͤrig denken: denn ſie
iſt es ganz, die ſich dadurch dem Sinne des Auges
beſonders offenbaren will.

Eben ſo entdeckt ſich die ganze Natur einem
anderen Sinne Man ſchließe das Auge, man
oͤffne, man ſchaͤrfe das Ohr, und vom leiſeſten Hauch
bis zum wildeſten Geraͤuſch, vom einfachſten Klang
bis zur hoͤchſten Zuſammenſtimmung, von dem hef-
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[X/0016] wir uns, den Charakter eines Menſchen zu ſchil- dern; man ſtelle dagegen ſeine Handlungen, ſeine Thaten zuſammen, und ein Bild des Charakters wird uns entgegentreten. Die Farben ſind Thaten des Lichts, Thaten und Leiden. In dieſem Sinne koͤnnen wir von denſelben Aufſchluͤſſe uͤber das Licht erwarten. Far- ben und Licht ſtehen zwar unter einander in dem ge- nauſten Verhaͤltniß, aber wir muͤſſen uns beyde als der ganzen Natur angehoͤrig denken: denn ſie iſt es ganz, die ſich dadurch dem Sinne des Auges beſonders offenbaren will. Eben ſo entdeckt ſich die ganze Natur einem anderen Sinne Man ſchließe das Auge, man oͤffne, man ſchaͤrfe das Ohr, und vom leiſeſten Hauch bis zum wildeſten Geraͤuſch, vom einfachſten Klang bis zur hoͤchſten Zuſammenſtimmung, von dem hef- tigſten leidenſchaftlichen Schrey bis zum ſanfteſten Worte der Vernunft iſt es nur die Natur, die

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 1. Tübingen, 1810, S. X. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_farbenlehre01_1810/16>, abgerufen am 24.04.2024.