Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Goethe, Johann Wolfgang von: West-östlicher Divan. Stuttgart, 1819.

Bild:
<< vorherige Seite

mung verleihend, wahrhaft erbaut. Eine
solche Wirkung wird Luthers Bibelüber-
setzung jederzeit hervorbringen.

Hätte man die Nibelungen gleich in
tüchtige Prosa gesetzt und sie zu einem
Volksbuche gestempelt, so wäre viel ge-
wonnen worden, und der seltsame, ernste,
düstere, grauerliche Rittersinn hätte uns
mit seiner vollkommenen Kraft angespro-
chen. Ob dieses jetzt noch räthlich und
thunlich sey werden diejenigen am besten
beurtheilen, die sich diesen alterthümlichen
Geschäften entschiedener gewidmet haben.

Eine zweyte Epoche folgt hierauf, wo
man sich in die Zustände des Auslandes
zwar zu versetzen, aber eigentlich nur
fremden Sinn sich anzueignen und mit eig-
nem Sinne wieder darzustellen bemüht ist.
Solche Zeit möchte ich im reinsten Wort-
verstand die parodistische nennen.
Meistentheils sind es geistreiche Menschen,
die sich zu einem solchen Geschäft beru-
fen fühlen. Die Franzosen bedienen sich
dieser Art bey Uebersetzung aller poetischen
Werke; Beyspiele zu Hunderten lassen sich
in Delilles Uebertragungen finden. Der

mung verleihend, wahrhaft erbaut. Eine
solche Wirkung wird Luthers Bibelüber-
setzung jederzeit hervorbringen.

Hätte man die Nibelungen gleich in
tüchtige Prosa gesetzt und sie zu einem
Volksbuche gestempelt, so wäre viel ge-
wonnen worden, und der seltsame, ernste,
düstere, grauerliche Rittersinn hätte uns
mit seiner vollkommenen Kraft angespro-
chen. Ob dieses jetzt noch räthlich und
thunlich sey werden diejenigen am besten
beurtheilen, die sich diesen alterthümlichen
Geschäften entschiedener gewidmet haben.

Eine zweyte Epoche folgt hierauf, wo
man sich in die Zustände des Auslandes
zwar zu versetzen, aber eigentlich nur
fremden Sinn sich anzueignen und mit eig-
nem Sinne wieder darzustellen bemüht ist.
Solche Zeit möchte ich im reinsten Wort-
verstand die parodistische nennen.
Meistentheils sind es geistreiche Menschen,
die sich zu einem solchen Geschäft beru-
fen fühlen. Die Franzosen bedienen sich
dieser Art bey Uebersetzung aller poetischen
Werke; Beyspiele zu Hunderten lassen sich
in Delilles Uebertragungen finden. Der

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0537" n="527"/>
mung verleihend, wahrhaft erbaut. Eine<lb/>
solche Wirkung wird Luthers Bibelüber-<lb/>
setzung jederzeit hervorbringen.</p><lb/>
          <p>Hätte man die Nibelungen gleich in<lb/>
tüchtige Prosa gesetzt und sie zu einem<lb/>
Volksbuche gestempelt, so wäre viel ge-<lb/>
wonnen worden, und der seltsame, ernste,<lb/>
düstere, grauerliche Rittersinn hätte uns<lb/>
mit seiner vollkommenen Kraft angespro-<lb/>
chen. Ob dieses jetzt noch räthlich und<lb/>
thunlich sey werden diejenigen am besten<lb/>
beurtheilen, die sich diesen alterthümlichen<lb/>
Geschäften entschiedener gewidmet haben.</p><lb/>
          <p>Eine zweyte Epoche folgt hierauf, wo<lb/>
man sich in die Zustände des Auslandes<lb/>
zwar zu versetzen, aber eigentlich nur<lb/>
fremden Sinn sich anzueignen und mit eig-<lb/>
nem Sinne wieder darzustellen bemüht ist.<lb/>
Solche Zeit möchte ich im reinsten Wort-<lb/>
verstand die <hi rendition="#g">parodistische</hi> nennen.<lb/>
Meistentheils sind es geistreiche Menschen,<lb/>
die sich zu einem solchen Geschäft beru-<lb/>
fen fühlen. Die Franzosen bedienen sich<lb/>
dieser Art bey Uebersetzung aller poetischen<lb/>
Werke; Beyspiele zu Hunderten lassen sich<lb/>
in Delilles Uebertragungen finden. Der<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[527/0537] mung verleihend, wahrhaft erbaut. Eine solche Wirkung wird Luthers Bibelüber- setzung jederzeit hervorbringen. Hätte man die Nibelungen gleich in tüchtige Prosa gesetzt und sie zu einem Volksbuche gestempelt, so wäre viel ge- wonnen worden, und der seltsame, ernste, düstere, grauerliche Rittersinn hätte uns mit seiner vollkommenen Kraft angespro- chen. Ob dieses jetzt noch räthlich und thunlich sey werden diejenigen am besten beurtheilen, die sich diesen alterthümlichen Geschäften entschiedener gewidmet haben. Eine zweyte Epoche folgt hierauf, wo man sich in die Zustände des Auslandes zwar zu versetzen, aber eigentlich nur fremden Sinn sich anzueignen und mit eig- nem Sinne wieder darzustellen bemüht ist. Solche Zeit möchte ich im reinsten Wort- verstand die parodistische nennen. Meistentheils sind es geistreiche Menschen, die sich zu einem solchen Geschäft beru- fen fühlen. Die Franzosen bedienen sich dieser Art bey Uebersetzung aller poetischen Werke; Beyspiele zu Hunderten lassen sich in Delilles Uebertragungen finden. Der

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_divan_1819
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_divan_1819/537
Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: West-östlicher Divan. Stuttgart, 1819, S. 527. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_divan_1819/537>, abgerufen am 22.12.2024.