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Goethe, Johann Wolfgang von: West-östlicher Divan. Stuttgart, 1819.

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Er kam betagt in unsern Kreis, wo er, in
keinem Sinne, für sich eine behagliche La-
ge fand; doch gab er mir gern über alles
worüber ich ihn befragte treuen Bescheid,
sobald es innerhalb der Grenze seiner Kennt-
nisse lag, die er oft mochte zu scharf ge-
zogen haben.

Wundersam schien es mir anfangs ihn
als keinen sonderlichen Freund orientali-
scher Poesie zu finden; und doch geht es
einem jeden auf ähnliche Weise, der auf
irgend ein Geschäft mit Vorliebe und En-
thusiasmus Zeit und Kräfte verwendet und
doch zuletzt eine gehoffte Ausbeute nicht
zu finden glaubt. Und dann ist ja das Al-
ter die Zeit die des Genusses entbehrt, da
wo ihn der Mensch am meisten verdiente.
Sein Verstand und seine Redlichkeit waren
gleich heiter und ich erinnere mich der
Stunden die ich mit ihm zubrachte immer
mit Vergnügen.


Er kam betagt in unsern Kreis, wo er, in
keinem Sinne, für sich eine behagliche La-
ge fand; doch gab er mir gern über alles
worüber ich ihn befragte treuen Bescheid,
sobald es innerhalb der Grenze seiner Kennt-
nisse lag, die er oft mochte zu scharf ge-
zogen haben.

Wundersam schien es mir anfangs ihn
als keinen sonderlichen Freund orientali-
scher Poesie zu finden; und doch geht es
einem jeden auf ähnliche Weise, der auf
irgend ein Geschäft mit Vorliebe und En-
thusiasmus Zeit und Kräfte verwendet und
doch zuletzt eine gehoffte Ausbeute nicht
zu finden glaubt. Und dann ist ja das Al-
ter die Zeit die des Genusses entbehrt, da
wo ihn der Mensch am meisten verdiente.
Sein Verstand und seine Redlichkeit waren
gleich heiter und ich erinnere mich der
Stunden die ich mit ihm zubrachte immer
mit Vergnügen.


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[509/0519] Er kam betagt in unsern Kreis, wo er, in keinem Sinne, für sich eine behagliche La- ge fand; doch gab er mir gern über alles worüber ich ihn befragte treuen Bescheid, sobald es innerhalb der Grenze seiner Kennt- nisse lag, die er oft mochte zu scharf ge- zogen haben. Wundersam schien es mir anfangs ihn als keinen sonderlichen Freund orientali- scher Poesie zu finden; und doch geht es einem jeden auf ähnliche Weise, der auf irgend ein Geschäft mit Vorliebe und En- thusiasmus Zeit und Kräfte verwendet und doch zuletzt eine gehoffte Ausbeute nicht zu finden glaubt. Und dann ist ja das Al- ter die Zeit die des Genusses entbehrt, da wo ihn der Mensch am meisten verdiente. Sein Verstand und seine Redlichkeit waren gleich heiter und ich erinnere mich der Stunden die ich mit ihm zubrachte immer mit Vergnügen.

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: West-östlicher Divan. Stuttgart, 1819, S. 509. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_divan_1819/519>, abgerufen am 25.11.2024.