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Goethe, Johann Wolfgang von: West-östlicher Divan. Stuttgart, 1819.

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diejenigen Eigenschaften abgesprochen, die
bisher höchlich an ihm bewundert wurden,
die Eigenschaften des Regenten und Heer-
führers. Was aber zeichnet ihn denn aus?
wodurch legitimirt er sich zu einem so
wichtigen Beruf? Was giebt ihm die Kühn-
heit sich, trotz innerer und äusserer Un-
gunst, zu einem solchen Geschäfte hinzu-
drängen, wenn ihm jene Haupterforder-
nisse, jene unerlässlichen Talente fehlen,
die ihr ihm mit unerhörter Frechheit ab-
sprecht? Hierauf lasse man uns antwor-
ten: Nicht die Talente, nicht das Geschick
zu diesem oder jenem machen eigentlich
den Mann der That, die Persönlichkeit
ist's von der in solchen Fällen alles ab-
hängt. Der Charakter ruht auf der Per-
sönlichkeit, nicht auf den Talenten. Ta-
lente können sich zum Charakter gesellen,
er gesellt sich nicht zu ihnen: denn ihm
ist alles entbehrlich ausser er selbst. Und
so gestehen wir gern, dass uns die Persön-
lichkeit Mosis, von dem ersten Meuchel-
mord an, durch alle Grausamkeiten durch,
bis zum Verschwinden, ein höchst bedeu-
tendes und würdiges Bild giebt, von einem

diejenigen Eigenschaften abgesprochen, die
bisher höchlich an ihm bewundert wurden,
die Eigenschaften des Regenten und Heer-
führers. Was aber zeichnet ihn denn aus?
wodurch legitimirt er sich zu einem so
wichtigen Beruf? Was giebt ihm die Kühn-
heit sich, trotz innerer und äuſserer Un-
gunst, zu einem solchen Geschäfte hinzu-
drängen, wenn ihm jene Haupterforder-
nisse, jene unerläſslichen Talente fehlen,
die ihr ihm mit unerhörter Frechheit ab-
sprecht? Hierauf lasse man uns antwor-
ten: Nicht die Talente, nicht das Geschick
zu diesem oder jenem machen eigentlich
den Mann der That, die Persönlichkeit
ist’s von der in solchen Fällen alles ab-
hängt. Der Charakter ruht auf der Per-
sönlichkeit, nicht auf den Talenten. Ta-
lente können sich zum Charakter gesellen,
er gesellt sich nicht zu ihnen: denn ihm
ist alles entbehrlich auſser er selbst. Und
so gestehen wir gern, daſs uns die Persön-
lichkeit Mosis, von dem ersten Meuchel-
mord an, durch alle Grausamkeiten durch,
bis zum Verschwinden, ein höchst bedeu-
tendes und würdiges Bild giebt, von einem

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[457[459]/0469] diejenigen Eigenschaften abgesprochen, die bisher höchlich an ihm bewundert wurden, die Eigenschaften des Regenten und Heer- führers. Was aber zeichnet ihn denn aus? wodurch legitimirt er sich zu einem so wichtigen Beruf? Was giebt ihm die Kühn- heit sich, trotz innerer und äuſserer Un- gunst, zu einem solchen Geschäfte hinzu- drängen, wenn ihm jene Haupterforder- nisse, jene unerläſslichen Talente fehlen, die ihr ihm mit unerhörter Frechheit ab- sprecht? Hierauf lasse man uns antwor- ten: Nicht die Talente, nicht das Geschick zu diesem oder jenem machen eigentlich den Mann der That, die Persönlichkeit ist’s von der in solchen Fällen alles ab- hängt. Der Charakter ruht auf der Per- sönlichkeit, nicht auf den Talenten. Ta- lente können sich zum Charakter gesellen, er gesellt sich nicht zu ihnen: denn ihm ist alles entbehrlich auſser er selbst. Und so gestehen wir gern, daſs uns die Persön- lichkeit Mosis, von dem ersten Meuchel- mord an, durch alle Grausamkeiten durch, bis zum Verschwinden, ein höchst bedeu- tendes und würdiges Bild giebt, von einem

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: West-östlicher Divan. Stuttgart, 1819, S. 457[459]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_divan_1819/469>, abgerufen am 16.06.2024.