Geschlecht, aus dem gewaltsamen Stamme Levi, tritt ein gewaltsamer Mann hervor; lebhaftes Gefühl von Recht und Unrecht bezeichnen denselben. Würdig seiner grim- migen Ahnherren erscheint er, von denen der Stammvater ausruft: "Die Brüder Si- meon und Levi! ihre Schwerter sind mör- derische Waffen, meine Seele komme nicht in ihren Rath und meine Ehre sey nicht in ihrer Versammlung! denn in ihrem Zorn haben sie den Mann erwürgt und in ihrem Muthwillen haben sie den Ochsen verderbt! Verflucht sey ihr Zorn, dass er so heftig ist, und ihr Grimm, dass er so störrig ist! Ich will sie zerstreuen in Jakob und zer- streuen in Israel."
Völlig nun in solchem Sinne kündigt sich Moses an. Den Egypter, der einen Israeliten misshandelt, erschlägt er heimlich. Sein patriotischer Meuchelmord wird ent- deckt und er muss entfliehen. Wer, eine solche Handlung begehend, sich als blossen Naturmenschen darstellt, nach dessen Er- ziehung hat man nicht Ursache zu fragen. Er sey von einer Fürstin als Knabe begün- stigt, er sey am Hofe erzogen worden;
Geschlecht, aus dem gewaltsamen Stamme Levi, tritt ein gewaltsamer Mann hervor; lebhaftes Gefühl von Recht und Unrecht bezeichnen denselben. Würdig seiner grim- migen Ahnherren erscheint er, von denen der Stammvater ausruft: „Die Brüder Si- meon und Levi! ihre Schwerter sind mör- derische Waffen, meine Seele komme nicht in ihren Rath und meine Ehre sey nicht in ihrer Versammlung! denn in ihrem Zorn haben sie den Mann erwürgt und in ihrem Muthwillen haben sie den Ochsen verderbt! Verflucht sey ihr Zorn, daſs er so heftig ist, und ihr Grimm, daſs er so störrig ist! Ich will sie zerstreuen in Jakob und zer- streuen in Israel.“
Völlig nun in solchem Sinne kündigt sich Moses an. Den Egypter, der einen Israeliten miſshandelt, erschlägt er heimlich. Sein patriotischer Meuchelmord wird ent- deckt und er muſs entfliehen. Wer, eine solche Handlung begehend, sich als bloſsen Naturmenschen darstellt, nach dessen Er- ziehung hat man nicht Ursache zu fragen. Er sey von einer Fürstin als Knabe begün- stigt, er sey am Hofe erzogen worden;
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[429[431]/0441]
Geschlecht, aus dem gewaltsamen Stamme
Levi, tritt ein gewaltsamer Mann hervor;
lebhaftes Gefühl von Recht und Unrecht
bezeichnen denselben. Würdig seiner grim-
migen Ahnherren erscheint er, von denen
der Stammvater ausruft: „Die Brüder Si-
meon und Levi! ihre Schwerter sind mör-
derische Waffen, meine Seele komme nicht
in ihren Rath und meine Ehre sey nicht
in ihrer Versammlung! denn in ihrem Zorn
haben sie den Mann erwürgt und in ihrem
Muthwillen haben sie den Ochsen verderbt!
Verflucht sey ihr Zorn, daſs er so heftig
ist, und ihr Grimm, daſs er so störrig ist!
Ich will sie zerstreuen in Jakob und zer-
streuen in Israel.“
Völlig nun in solchem Sinne kündigt
sich Moses an. Den Egypter, der einen
Israeliten miſshandelt, erschlägt er heimlich.
Sein patriotischer Meuchelmord wird ent-
deckt und er muſs entfliehen. Wer, eine
solche Handlung begehend, sich als bloſsen
Naturmenschen darstellt, nach dessen Er-
ziehung hat man nicht Ursache zu fragen.
Er sey von einer Fürstin als Knabe begün-
stigt, er sey am Hofe erzogen worden;
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Goethe, Johann Wolfgang von: West-östlicher Divan. Stuttgart, 1819, S. 429[431]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_divan_1819/441>, abgerufen am 22.11.2024.
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