Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Goethe, Johann Wolfgang von: West-östlicher Divan. Stuttgart, 1819.

Bild:
<< vorherige Seite

Welt-Gegenstände, die Leichtigkeit zu rei-
men, sodann aber eine gewisse Lust und
Richtung der Nation Räthsel aufzugeben,
wodurch sich zugleich die Fähigkeit aus-
bildet Räthsel aufzulösen, welches denje-
nigen deutlich seyn wird, deren Talent sich
dahin neigt Charaden, Logogryphen und
dergleichen zu behandeln.

Hiebey ist nun zu bemerken: wenn ein
Liebendes dem Geliebten irgend einen Ge-
genstand zusendet, so muss der Empfan-
gende sich das Wort aussprechen, und
suchen was sich darauf reimt, sodann
aber ausspähen, welcher unter den vielen
möglichen Reimen für den gegenwärtigen
Zustand passen möchte? Dass hiebey eine
leidenschaftliche Divination obwalten müs-
se, fällt sogleich in die Augen. Ein Bey-
spiel kann die Sache deutlich machen und
so sey folgender kleine Roman in einer sol-
chen Correspondenz durchgeführt.

Die Wächter sind gebändiget
Durch süsse Liebesthaten;
Doch wie wir uns verständiget
Das wollen wir verrathen;

Welt-Gegenstände, die Leichtigkeit zu rei-
men, sodann aber eine gewisse Lust und
Richtung der Nation Räthsel aufzugeben,
wodurch sich zugleich die Fähigkeit aus-
bildet Räthsel aufzulösen, welches denje-
nigen deutlich seyn wird, deren Talent sich
dahin neigt Charaden, Logogryphen und
dergleichen zu behandeln.

Hiebey ist nun zu bemerken: wenn ein
Liebendes dem Geliebten irgend einen Ge-
genstand zusendet, so muſs der Empfan-
gende sich das Wort aussprechen, und
suchen was sich darauf reimt, sodann
aber ausspähen, welcher unter den vielen
möglichen Reimen für den gegenwärtigen
Zustand passen möchte? Daſs hiebey eine
leidenschaftliche Divination obwalten müs-
se, fällt sogleich in die Augen. Ein Bey-
spiel kann die Sache deutlich machen und
so sey folgender kleine Roman in einer sol-
chen Correspondenz durchgeführt.

Die Wächter sind gebändiget
Durch süſse Liebesthaten;
Doch wie wir uns verständiget
Das wollen wir verrathen;
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0398" n="388"/>
Welt-Gegenstände, die Leichtigkeit zu rei-<lb/>
men, sodann aber eine gewisse Lust und<lb/>
Richtung der Nation Räthsel aufzugeben,<lb/>
wodurch sich zugleich die Fähigkeit aus-<lb/>
bildet Räthsel aufzulösen, welches denje-<lb/>
nigen deutlich seyn wird, deren Talent sich<lb/>
dahin neigt Charaden, Logogryphen und<lb/>
dergleichen zu behandeln.</p><lb/>
          <p>Hiebey ist nun zu bemerken: wenn ein<lb/>
Liebendes dem Geliebten irgend einen Ge-<lb/>
genstand zusendet, so mu&#x017F;s der Empfan-<lb/>
gende sich das Wort aussprechen, und<lb/>
suchen was sich darauf reimt, sodann<lb/>
aber ausspähen, welcher unter den vielen<lb/>
möglichen Reimen für den gegenwärtigen<lb/>
Zustand passen möchte? Da&#x017F;s hiebey eine<lb/>
leidenschaftliche Divination obwalten müs-<lb/>
se, fällt sogleich in die Augen. Ein Bey-<lb/>
spiel kann die Sache deutlich machen und<lb/>
so sey folgender kleine Roman in einer sol-<lb/>
chen Correspondenz durchgeführt.</p><lb/>
          <lg type="poem">
            <l>Die Wächter sind gebändiget</l><lb/>
            <l>Durch sü&#x017F;se Liebesthaten;</l><lb/>
            <l>Doch wie wir uns verständiget</l><lb/>
            <l>Das wollen wir verrathen;</l><lb/>
          </lg>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[388/0398] Welt-Gegenstände, die Leichtigkeit zu rei- men, sodann aber eine gewisse Lust und Richtung der Nation Räthsel aufzugeben, wodurch sich zugleich die Fähigkeit aus- bildet Räthsel aufzulösen, welches denje- nigen deutlich seyn wird, deren Talent sich dahin neigt Charaden, Logogryphen und dergleichen zu behandeln. Hiebey ist nun zu bemerken: wenn ein Liebendes dem Geliebten irgend einen Ge- genstand zusendet, so muſs der Empfan- gende sich das Wort aussprechen, und suchen was sich darauf reimt, sodann aber ausspähen, welcher unter den vielen möglichen Reimen für den gegenwärtigen Zustand passen möchte? Daſs hiebey eine leidenschaftliche Divination obwalten müs- se, fällt sogleich in die Augen. Ein Bey- spiel kann die Sache deutlich machen und so sey folgender kleine Roman in einer sol- chen Correspondenz durchgeführt. Die Wächter sind gebändiget Durch süſse Liebesthaten; Doch wie wir uns verständiget Das wollen wir verrathen;

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_divan_1819
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_divan_1819/398
Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: West-östlicher Divan. Stuttgart, 1819, S. 388. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_divan_1819/398>, abgerufen am 23.11.2024.