er, in späteren Tagen lebend, um in seiner Epoche geistreich zu seyn, auf einen, durch Kunst, Wissenschaft, Technik, Politik, Kriegs- und Friedensverkehr und Verderb so unendlich verklausulirten, zersplitterten Zustand mannigfaltigst anspielen müsse; so glauben wir ihm die zugesprochene Orien- talität genugsam bestätigt zu haben.
Einen Unterschied jedoch, den eines poetischen und prosaischen Verfahrens, he- ben wir hervor. Dem Poeten, welchem Takt, Paralell-Stellung, Sylbenfall, Reim die grössten Hindernisse in den Weg zu le- gen scheinen, gereicht alles zum entschie- densten Vortheil, wenn er die Räthselkno- ten glücklich löst, die ihm aufgegeben sind, oder die er sich selbst aufgiebt; die kühn- ste Metapher verzeihen wir wegen eines unerwarteten Reims und freuen uns der Besonnenheit des Dichters, die er, in einer so nothgedrungenen Stellung, behauptet.
Der Prosaist hingegen hat die Ellebo- gen gänzlich frey und ist für jede Verwe- genheit verantwortlich, die er sich erlaubt; alles was den Geschmack verletzen könnte kommt auf seine Rechnung. Da nun aber,
er, in späteren Tagen lebend, um in seiner Epoche geistreich zu seyn, auf einen, durch Kunst, Wissenschaft, Technik, Politik, Kriegs- und Friedensverkehr und Verderb so unendlich verklausulirten, zersplitterten Zustand mannigfaltigst anspielen müsse; so glauben wir ihm die zugesprochene Orien- talität genugsam bestätigt zu haben.
Einen Unterschied jedoch, den eines poetischen und prosaischen Verfahrens, he- ben wir hervor. Dem Poeten, welchem Takt, Paralell-Stellung, Sylbenfall, Reim die gröſsten Hindernisse in den Weg zu le- gen scheinen, gereicht alles zum entschie- densten Vortheil, wenn er die Räthselkno- ten glücklich löst, die ihm aufgegeben sind, oder die er sich selbst aufgiebt; die kühn- ste Metapher verzeihen wir wegen eines unerwarteten Reims und freuen uns der Besonnenheit des Dichters, die er, in einer so nothgedrungenen Stellung, behauptet.
Der Prosaist hingegen hat die Ellebo- gen gänzlich frey und ist für jede Verwe- genheit verantwortlich, die er sich erlaubt; alles was den Geschmack verletzen könnte kommt auf seine Rechnung. Da nun aber,
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er, in späteren Tagen lebend, um in seiner
Epoche geistreich zu seyn, auf einen, durch
Kunst, Wissenschaft, Technik, Politik,
Kriegs- und Friedensverkehr und Verderb
so unendlich verklausulirten, zersplitterten
Zustand mannigfaltigst anspielen müsse; so
glauben wir ihm die zugesprochene Orien-
talität genugsam bestätigt zu haben.
Einen Unterschied jedoch, den eines
poetischen und prosaischen Verfahrens, he-
ben wir hervor. Dem Poeten, welchem
Takt, Paralell-Stellung, Sylbenfall, Reim
die gröſsten Hindernisse in den Weg zu le-
gen scheinen, gereicht alles zum entschie-
densten Vortheil, wenn er die Räthselkno-
ten glücklich löst, die ihm aufgegeben sind,
oder die er sich selbst aufgiebt; die kühn-
ste Metapher verzeihen wir wegen eines
unerwarteten Reims und freuen uns der
Besonnenheit des Dichters, die er, in einer
so nothgedrungenen Stellung, behauptet.
Der Prosaist hingegen hat die Ellebo-
gen gänzlich frey und ist für jede Verwe-
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Goethe, Johann Wolfgang von: West-östlicher Divan. Stuttgart, 1819, S. 375. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_divan_1819/385>, abgerufen am 23.12.2024.
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