Goethe, Johann Wolfgang von: West-östlicher Divan. Stuttgart, 1819.Unaufhörlich finden wir den Dichter Es stecken mehr als funfzig Angeln In jeder Locke deiner Haare; ist höchst lieblich an ein schönes locken- In deiner Locken Banden liegt Des Feindes Hals verstrickt; so giebt es der Einbildungskraft entweder Dass wir von Wimpern gemordet Unaufhörlich finden wir den Dichter Es stecken mehr als funfzig Angeln In jeder Locke deiner Haare; ist höchst lieblich an ein schönes locken- In deiner Locken Banden liegt Des Feindes Hals verstrickt; so giebt es der Einbildungskraft entweder Daſs wir von Wimpern gemordet <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0375" n="365"/> <p>Unaufhörlich finden wir den Dichter<lb/> wie er mit Locken spielt.</p><lb/> <lg type="poem"> <l>Es stecken mehr als funfzig Angeln</l><lb/> <l>In jeder Locke deiner Haare;</l> </lg><lb/> <p>ist höchst lieblich an ein schönes locken-<lb/> reiches Haupt gerichtet, die Einbildungs-<lb/> kraft hat nichts dawider sich die Haarspi-<lb/> tzen hakenartig zu denken. Wenn aber<lb/> der Dichter sagt, daſs er an Haaren aufge-<lb/> hängt sey, so will es uns nicht recht ge-<lb/> fallen. Wenn es nun aber gar vom Sultan<lb/> heiſst:</p><lb/> <lg type="poem"> <l>In deiner Locken Banden liegt</l><lb/> <l>Des Feindes Hals verstrickt;</l> </lg><lb/> <p>so giebt es der Einbildungskraft entweder<lb/> ein widerlich Bild oder gar keins.</p><lb/> <p>Daſs wir von <hi rendition="#g">Wimpern</hi> gemordet<lb/> werden, möchte wohl angehn, aber an<lb/> Wimpern gespieſst seyn, kann uns nicht<lb/> behagen; wenn ferner Wimpern, gar mit<lb/> Besen verglichen, die Sterne vom Himmel<lb/> herabkehren, so wird es uns doch zu bunt.<lb/> Die <hi rendition="#g">Stirn</hi> der Schönen als Glättstein der<lb/> Herzen; das <hi rendition="#g">Herz</hi> des Liebenden als Ge-<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [365/0375]
Unaufhörlich finden wir den Dichter
wie er mit Locken spielt.
Es stecken mehr als funfzig Angeln
In jeder Locke deiner Haare;
ist höchst lieblich an ein schönes locken-
reiches Haupt gerichtet, die Einbildungs-
kraft hat nichts dawider sich die Haarspi-
tzen hakenartig zu denken. Wenn aber
der Dichter sagt, daſs er an Haaren aufge-
hängt sey, so will es uns nicht recht ge-
fallen. Wenn es nun aber gar vom Sultan
heiſst:
In deiner Locken Banden liegt
Des Feindes Hals verstrickt;
so giebt es der Einbildungskraft entweder
ein widerlich Bild oder gar keins.
Daſs wir von Wimpern gemordet
werden, möchte wohl angehn, aber an
Wimpern gespieſst seyn, kann uns nicht
behagen; wenn ferner Wimpern, gar mit
Besen verglichen, die Sterne vom Himmel
herabkehren, so wird es uns doch zu bunt.
Die Stirn der Schönen als Glättstein der
Herzen; das Herz des Liebenden als Ge-
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools
|
URL zu diesem Werk: | https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_divan_1819 |
URL zu dieser Seite: | https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_divan_1819/375 |
Zitationshilfe: | Goethe, Johann Wolfgang von: West-östlicher Divan. Stuttgart, 1819, S. 365. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_divan_1819/375>, abgerufen am 23.07.2024. |