Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Goethe, Johann Wolfgang von: West-östlicher Divan. Stuttgart, 1819.

Bild:
<< vorherige Seite

und Gebrechen, der Führerin zum Ziele
innerer Beruhigung, oder im Epos findet,
welches mit unpartheyischer Kühnheit das
Edelste menschlicher Trefflichkeit neben die
nicht mehr getadelte, sondern als zum Gan-
zen wirkende Gewöhnlichkeit des Lebens
hinstellt, und beyde Gegensätze auflöst und
zu einem reinen Bilde des Daseyns verei-
nigt. Wenn es nämlich der menschlichen
Natur gemäss, und ein Zeichen ihrer höhe-
ren Abkunft ist, dass sie das Edle mensch-
licher Handlungen, und jede höhere Voll-
kommenheit mit Begeisterung erfasst, und
sich an deren Erwägung gleichsam das in-
nere Leben erneuert, so ist die Lobprei-
sung auch der Macht und Gewalt, wie sie
in Fürsten sich offenbart, eine herrliche
Erscheinung im Gebiete der Poesie, und
bey uns, mit vollestem Rechte zwar, nur
darum in Verachtung gesunken, weil die-
jenigen, die sich derselben hingaben, mei-
stens nicht Dichter, sondern nur feile
Schmeichler gewesen. Wer aber, der Cal-
deron seinen König preisen hört, mag hier,
wo der kühnste Aufschwung der Phantasie
ihn mit fortreisst, an Käuflichkeit des Lo-

und Gebrechen, der Führerin zum Ziele
innerer Beruhigung, oder im Epos findet,
welches mit unpartheyischer Kühnheit das
Edelste menschlicher Trefflichkeit neben die
nicht mehr getadelte, sondern als zum Gan-
zen wirkende Gewöhnlichkeit des Lebens
hinstellt, und beyde Gegensätze auflöst und
zu einem reinen Bilde des Daseyns verei-
nigt. Wenn es nämlich der menschlichen
Natur gemäſs, und ein Zeichen ihrer höhe-
ren Abkunft ist, daſs sie das Edle mensch-
licher Handlungen, und jede höhere Voll-
kommenheit mit Begeisterung erfaſst, und
sich an deren Erwägung gleichsam das in-
nere Leben erneuert, so ist die Lobprei-
sung auch der Macht und Gewalt, wie sie
in Fürsten sich offenbart, eine herrliche
Erscheinung im Gebiete der Poesie, und
bey uns, mit vollestem Rechte zwar, nur
darum in Verachtung gesunken, weil die-
jenigen, die sich derselben hingaben, mei-
stens nicht Dichter, sondern nur feile
Schmeichler gewesen. Wer aber, der Cal-
deron seinen König preisen hört, mag hier,
wo der kühnste Aufschwung der Phantasie
ihn mit fortreiſst, an Käuflichkeit des Lo-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0358" n="348"/>
und Gebrechen, der Führerin zum Ziele<lb/>
innerer Beruhigung, oder im Epos findet,<lb/>
welches mit unpartheyischer Kühnheit das<lb/>
Edelste menschlicher Trefflichkeit neben die<lb/>
nicht mehr getadelte, sondern als zum Gan-<lb/>
zen wirkende Gewöhnlichkeit des Lebens<lb/>
hinstellt, und beyde Gegensätze auflöst und<lb/>
zu einem reinen Bilde des Daseyns verei-<lb/>
nigt. Wenn es nämlich der menschlichen<lb/>
Natur gemä&#x017F;s, und ein Zeichen ihrer höhe-<lb/>
ren Abkunft ist, da&#x017F;s sie das Edle mensch-<lb/>
licher Handlungen, und jede höhere Voll-<lb/>
kommenheit mit Begeisterung erfa&#x017F;st, und<lb/>
sich an deren Erwägung gleichsam das in-<lb/>
nere Leben erneuert, so ist die Lobprei-<lb/>
sung auch der Macht und Gewalt, wie sie<lb/>
in Fürsten sich offenbart, eine herrliche<lb/>
Erscheinung im Gebiete der Poesie, und<lb/>
bey uns, mit vollestem Rechte zwar, nur<lb/>
darum in Verachtung gesunken, weil die-<lb/>
jenigen, die sich derselben hingaben, mei-<lb/>
stens nicht Dichter, sondern nur feile<lb/>
Schmeichler gewesen. Wer aber, der Cal-<lb/>
deron seinen König preisen hört, mag hier,<lb/>
wo der kühnste Aufschwung der Phantasie<lb/>
ihn mit fortrei&#x017F;st, an Käuflichkeit des Lo-<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[348/0358] und Gebrechen, der Führerin zum Ziele innerer Beruhigung, oder im Epos findet, welches mit unpartheyischer Kühnheit das Edelste menschlicher Trefflichkeit neben die nicht mehr getadelte, sondern als zum Gan- zen wirkende Gewöhnlichkeit des Lebens hinstellt, und beyde Gegensätze auflöst und zu einem reinen Bilde des Daseyns verei- nigt. Wenn es nämlich der menschlichen Natur gemäſs, und ein Zeichen ihrer höhe- ren Abkunft ist, daſs sie das Edle mensch- licher Handlungen, und jede höhere Voll- kommenheit mit Begeisterung erfaſst, und sich an deren Erwägung gleichsam das in- nere Leben erneuert, so ist die Lobprei- sung auch der Macht und Gewalt, wie sie in Fürsten sich offenbart, eine herrliche Erscheinung im Gebiete der Poesie, und bey uns, mit vollestem Rechte zwar, nur darum in Verachtung gesunken, weil die- jenigen, die sich derselben hingaben, mei- stens nicht Dichter, sondern nur feile Schmeichler gewesen. Wer aber, der Cal- deron seinen König preisen hört, mag hier, wo der kühnste Aufschwung der Phantasie ihn mit fortreiſst, an Käuflichkeit des Lo-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_divan_1819
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_divan_1819/358
Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: West-östlicher Divan. Stuttgart, 1819, S. 348. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_divan_1819/358>, abgerufen am 05.12.2024.