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Goethe, Johann Wolfgang von: West-östlicher Divan. Stuttgart, 1819.

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Wie nun aus Vorstehendem klar ist,
dass, seit drey Jahrhunderten, sich immer
eine gewisse Prosa-Poesie erhalten hat,
und Geschäfts- und Briefstyl öffentlich und
in Privat-Verhandlungen immer derselbige
bleibt; so erfahren wir, dass in der neu-
sten Zeit am persischen Hofe sich noch im-
mer Dichter befinden, welche die Chronik
des Tages, und also alles was der Kaiser
vornimmt und was sich ereignet, in Reime
verfasst und zierlich geschrieben, einem hie-
zu besonders bestellten Archivarius überlie-
fern. Woraus denn erhellt dass in dem
unwandelbaren Orient, seit Ahasverus Zei-
ten, der sich solche Chroniken bey schlaf-
losen Nächten vorlesen lies, sich keine wei-
tere Veränderung zugetragen hat.

Wir bemerken hiebey dass ein solches
Vorlesen mit einer gewissen Declamation
geschehe, welche mit Emphase, einem Stei-
gen und Fallen des Tons vorgetragen wird,
und mit der Art wie die französischen
Trauerspiele declamirt werden sehr viel
Aehnlichkeit haben soll. Es lässt sich dies
um so eher denken, als die persischen Dop-

Wie nun aus Vorstehendem klar ist,
daſs, seit drey Jahrhunderten, sich immer
eine gewisse Prosa-Poesie erhalten hat,
und Geschäfts- und Briefstyl öffentlich und
in Privat-Verhandlungen immer derselbige
bleibt; so erfahren wir, daſs in der neu-
sten Zeit am persischen Hofe sich noch im-
mer Dichter befinden, welche die Chronik
des Tages, und also alles was der Kaiser
vornimmt und was sich ereignet, in Reime
verfaſst und zierlich geschrieben, einem hie-
zu besonders bestellten Archivarius überlie-
fern. Woraus denn erhellt daſs in dem
unwandelbaren Orient, seit Ahasverus Zei-
ten, der sich solche Chroniken bey schlaf-
losen Nächten vorlesen lies, sich keine wei-
tere Veränderung zugetragen hat.

Wir bemerken hiebey daſs ein solches
Vorlesen mit einer gewissen Declamation
geschehe, welche mit Emphase, einem Stei-
gen und Fallen des Tons vorgetragen wird,
und mit der Art wie die französischen
Trauerspiele declamirt werden sehr viel
Aehnlichkeit haben soll. Es läſst sich dies
um so eher denken, als die persischen Dop-

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[338/0348] Wie nun aus Vorstehendem klar ist, daſs, seit drey Jahrhunderten, sich immer eine gewisse Prosa-Poesie erhalten hat, und Geschäfts- und Briefstyl öffentlich und in Privat-Verhandlungen immer derselbige bleibt; so erfahren wir, daſs in der neu- sten Zeit am persischen Hofe sich noch im- mer Dichter befinden, welche die Chronik des Tages, und also alles was der Kaiser vornimmt und was sich ereignet, in Reime verfaſst und zierlich geschrieben, einem hie- zu besonders bestellten Archivarius überlie- fern. Woraus denn erhellt daſs in dem unwandelbaren Orient, seit Ahasverus Zei- ten, der sich solche Chroniken bey schlaf- losen Nächten vorlesen lies, sich keine wei- tere Veränderung zugetragen hat. Wir bemerken hiebey daſs ein solches Vorlesen mit einer gewissen Declamation geschehe, welche mit Emphase, einem Stei- gen und Fallen des Tons vorgetragen wird, und mit der Art wie die französischen Trauerspiele declamirt werden sehr viel Aehnlichkeit haben soll. Es läſst sich dies um so eher denken, als die persischen Dop-

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: West-östlicher Divan. Stuttgart, 1819, S. 338. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_divan_1819/348>, abgerufen am 28.11.2024.