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Görres, Joseph von: Teutschland und die Revolution. Koblenz, 1819.

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von Treue, Liebe, Sitte, Angewöhnung, Pietät und
Allem, was des Menschen Brust bewegt, nichts zu
ihrem Werk erfordert wird, indem ein klarer wasser¬
heller Verstand alles wohl beschickt; dürfen sie scho¬
nungslos durch alle menschlichen Verhältnisse fahren,
und auf ihrem Schachbrett Bauern, Läufer, Thürme,
Ritter ziehen nach Gutbefinden von einem Ende zu
dem Andern. Ihre Verfassungen sind nicht gesellige
Vereine, von selbstständigen Menschen zu wechselseiti¬
ger Bindung und Befreyung eingegangen; es sind Bü¬
cher, deren Blätter einst gegrünt, dann zu Lumpen zer¬
rieben, zerstampft und zu Papier gegossen, mit ihren or¬
dinairen Gedanken beschrieben, dann beziffert und ein¬
gebunden mit goldnem Schnitt, wenn vergriffen, je¬
desmal in neuer Auflage wieder erstehen. So ist all
ihr Thun ohne Segen, weil sie es allein auf den Dün¬
kel aufgebaut; jeder folgende Tag verzehrt, was der
Vorhergehende gebaut; in eitler Sorge müssen sie stets
wie Saturn ihre eignen Kinder fressen, bis ihnen
endlich die Mutter zürnend den Stein hinreicht, und
den Rächer dann erzieht. Durchgängig Männer von
Kraft, Wille, Geist und Talent, hätten sie das Salz
ihres Vaterlandes werden können; aber weil die Hof¬
fart sie bemeistert, sind sie ihm ein fressendes Gift
geworden; und indem ihre wilden feurigen Geister in
die eine Hälfte Teutschlands hineingefahren, jene trä¬
gen, gnomischen aber der andern Hälfte sich bemei¬
stert, mußten wir das Vaterland in jenem jämmer¬
lichen Zustand erblicken, wo es auf einer Seite, wie
vom Schlagflusse gelähmt, auf der andern im Veits
Tanz sich bewegt, und während die eine Hälfte asthenisch

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von Treue, Liebe, Sitte, Angewöhnung, Pietät und
Allem, was des Menſchen Bruſt bewegt, nichts zu
ihrem Werk erfordert wird, indem ein klarer waſſer¬
heller Verſtand alles wohl beſchickt; dürfen ſie ſcho¬
nungslos durch alle menſchlichen Verhältniſſe fahren,
und auf ihrem Schachbrett Bauern, Läufer, Thürme,
Ritter ziehen nach Gutbefinden von einem Ende zu
dem Andern. Ihre Verfaſſungen ſind nicht geſellige
Vereine, von ſelbſtſtändigen Menſchen zu wechſelſeiti¬
ger Bindung und Befreyung eingegangen; es ſind Bü¬
cher, deren Blätter einſt gegrünt, dann zu Lumpen zer¬
rieben, zerſtampft und zu Papier gegoſſen, mit ihren or¬
dinairen Gedanken beſchrieben, dann beziffert und ein¬
gebunden mit goldnem Schnitt, wenn vergriffen, je¬
desmal in neuer Auflage wieder erſtehen. So iſt all
ihr Thun ohne Segen, weil ſie es allein auf den Dün¬
kel aufgebaut; jeder folgende Tag verzehrt, was der
Vorhergehende gebaut; in eitler Sorge müſſen ſie ſtets
wie Saturn ihre eignen Kinder freſſen, bis ihnen
endlich die Mutter zürnend den Stein hinreicht, und
den Rächer dann erzieht. Durchgängig Männer von
Kraft, Wille, Geiſt und Talent, hätten ſie das Salz
ihres Vaterlandes werden können; aber weil die Hof¬
fart ſie bemeiſtert, ſind ſie ihm ein freſſendes Gift
geworden; und indem ihre wilden feurigen Geiſter in
die eine Hälfte Teutſchlands hineingefahren, jene trä¬
gen, gnomiſchen aber der andern Hälfte ſich bemei¬
ſtert, mußten wir das Vaterland in jenem jämmer¬
lichen Zuſtand erblicken, wo es auf einer Seite, wie
vom Schlagfluſſe gelähmt, auf der andern im Veits
Tanz ſich bewegt, und während die eine Hälfte aſtheniſch

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[51/0059] von Treue, Liebe, Sitte, Angewöhnung, Pietät und Allem, was des Menſchen Bruſt bewegt, nichts zu ihrem Werk erfordert wird, indem ein klarer waſſer¬ heller Verſtand alles wohl beſchickt; dürfen ſie ſcho¬ nungslos durch alle menſchlichen Verhältniſſe fahren, und auf ihrem Schachbrett Bauern, Läufer, Thürme, Ritter ziehen nach Gutbefinden von einem Ende zu dem Andern. Ihre Verfaſſungen ſind nicht geſellige Vereine, von ſelbſtſtändigen Menſchen zu wechſelſeiti¬ ger Bindung und Befreyung eingegangen; es ſind Bü¬ cher, deren Blätter einſt gegrünt, dann zu Lumpen zer¬ rieben, zerſtampft und zu Papier gegoſſen, mit ihren or¬ dinairen Gedanken beſchrieben, dann beziffert und ein¬ gebunden mit goldnem Schnitt, wenn vergriffen, je¬ desmal in neuer Auflage wieder erſtehen. So iſt all ihr Thun ohne Segen, weil ſie es allein auf den Dün¬ kel aufgebaut; jeder folgende Tag verzehrt, was der Vorhergehende gebaut; in eitler Sorge müſſen ſie ſtets wie Saturn ihre eignen Kinder freſſen, bis ihnen endlich die Mutter zürnend den Stein hinreicht, und den Rächer dann erzieht. Durchgängig Männer von Kraft, Wille, Geiſt und Talent, hätten ſie das Salz ihres Vaterlandes werden können; aber weil die Hof¬ fart ſie bemeiſtert, ſind ſie ihm ein freſſendes Gift geworden; und indem ihre wilden feurigen Geiſter in die eine Hälfte Teutſchlands hineingefahren, jene trä¬ gen, gnomiſchen aber der andern Hälfte ſich bemei¬ ſtert, mußten wir das Vaterland in jenem jämmer¬ lichen Zuſtand erblicken, wo es auf einer Seite, wie vom Schlagfluſſe gelähmt, auf der andern im Veits Tanz ſich bewegt, und während die eine Hälfte aſtheniſch 4 *

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Zitationshilfe: Görres, Joseph von: Teutschland und die Revolution. Koblenz, 1819, S. 51. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goerres_revolution_1819/59>, abgerufen am 23.11.2024.