Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Görres, Joseph von: Teutschland und die Revolution. Koblenz, 1819.

Bild:
<< vorherige Seite

ausgegangen; die Priesterherrschaft aber, nachdem
ihre Stütze erst gefallen, gleichfalls durch innere Ent¬
zweyung geschwächt, dann in Entartung aufgelöst,
endlich von der Reformation im ganzen Norden ge¬
stürzt, und im Süden wenigstens in ihren Grundve¬
sten erschüttert wurde. Ihr folgte im Untergang das
Kaiserthum, indem es in die Territorialherrschaft
hingewelkt; diese selbst löste sich in ihren Abstractio¬
nen auf, und so ist in der schon früher geschilderten
Weise, da, wenn die Blüthe gewelkt, und die Pflanze
eingedorrt, das Leben im Samen beschlossen, rück¬
kehrt in die Erde, mitten im Reich der allgemeinen
Willkühr die ursprüngliche Democratie, wenn auch
nicht factisch, doch potentialiter durch eine zweyte ab¬
steigende Bewegung wiederhergestellt.

Zwar ist es nicht die alte, sprossende Waldkraft,
mit ihrer Fülle von Naturtrieben, die hier zurückge¬
kehrt; denn es liegt eine ganze Culturzeit hinter ihr,
und die Reproduction ist im Charakter der fortschrei¬
tenden Geschichte vorgegangen: aber was sie nach der
Naturseite eingebüßt, ist ihr nach der Geistigen wie¬
der zugewachsen. Darum treibt ein innerer Instinkt
sie bewußtlos nach Allem hin, wodurch sie den neuen
Kreis, der ihr eröffnet ist, erfüllen kann; sie strebt
und ringt mit allen ihren Kräften, sich von jener
Willkühr vor Allem loszuwinden, bey der, wie sie
fühlt, fernerhin kein Verlaß mehr ist, keine Sicher¬
heit nach außen, und kein Friede nach innen hin,
nicht Würde, Hoffnung oder Liebe.

Diese Willkühr selbst hat solcher Stimmung vorge¬
arbeitet; jener statistische Kram, jene staatswirthschaft¬
liche Mästungslehre, die den Menschen zur Stallfüt¬
terung eingestellt, und um des Gewinnes Willen sein
Leibliches auf Unkosten des Geistigen herausgefüttert,
und die, wenn es in allem ihr nach Wunsch gegan¬
gen, und nicht wider ihren Willen geistige Erregun¬
gen wie Blitze durchgezuckt, am Ende mit jenem scheu߬
lichen Cretinism geendet hätte, wo der ganze höhere
Mensch in die blos vegetative Sphäre herabgesunken,
nur noch in den Drüsen lebt: das Alles bewies, daß

ausgegangen; die Prieſterherrſchaft aber, nachdem
ihre Stütze erſt gefallen, gleichfalls durch innere Ent¬
zweyung geſchwächt, dann in Entartung aufgelöſt,
endlich von der Reformation im ganzen Norden ge¬
ſtürzt, und im Süden wenigſtens in ihren Grundve¬
ſten erſchüttert wurde. Ihr folgte im Untergang das
Kaiſerthum, indem es in die Territorialherrſchaft
hingewelkt; dieſe ſelbſt löste ſich in ihren Abſtractio¬
nen auf, und ſo iſt in der ſchon früher geſchilderten
Weiſe, da, wenn die Blüthe gewelkt, und die Pflanze
eingedorrt, das Leben im Samen beſchloſſen, rück¬
kehrt in die Erde, mitten im Reich der allgemeinen
Willkühr die urſprüngliche Democratie, wenn auch
nicht factiſch, doch potentialiter durch eine zweyte ab¬
ſteigende Bewegung wiederhergeſtellt.

Zwar iſt es nicht die alte, ſproſſende Waldkraft,
mit ihrer Fülle von Naturtrieben, die hier zurückge¬
kehrt; denn es liegt eine ganze Culturzeit hinter ihr,
und die Reproduction iſt im Charakter der fortſchrei¬
tenden Geſchichte vorgegangen: aber was ſie nach der
Naturſeite eingebüßt, iſt ihr nach der Geiſtigen wie¬
der zugewachſen. Darum treibt ein innerer Inſtinkt
ſie bewußtlos nach Allem hin, wodurch ſie den neuen
Kreis, der ihr eröffnet iſt, erfüllen kann; ſie ſtrebt
und ringt mit allen ihren Kräften, ſich von jener
Willkühr vor Allem loszuwinden, bey der, wie ſie
fühlt, fernerhin kein Verlaß mehr iſt, keine Sicher¬
heit nach außen, und kein Friede nach innen hin,
nicht Würde, Hoffnung oder Liebe.

Dieſe Willkühr ſelbſt hat ſolcher Stimmung vorge¬
arbeitet; jener ſtatiſtiſche Kram, jene ſtaatswirthſchaft¬
liche Mäſtungslehre, die den Menſchen zur Stallfüt¬
terung eingeſtellt, und um des Gewinnes Willen ſein
Leibliches auf Unkoſten des Geiſtigen herausgefüttert,
und die, wenn es in allem ihr nach Wunſch gegan¬
gen, und nicht wider ihren Willen geiſtige Erregun¬
gen wie Blitze durchgezuckt, am Ende mit jenem ſcheu߬
lichen Cretinism geendet hätte, wo der ganze höhere
Menſch in die blos vegetative Sphäre herabgeſunken,
nur noch in den Drüſen lebt: das Alles bewies, daß

<TEI>
  <text>
    <body>
      <p><pb facs="#f0204" n="196"/>
ausgegangen; die Prie&#x017F;terherr&#x017F;chaft aber, nachdem<lb/>
ihre Stütze er&#x017F;t gefallen, gleichfalls durch innere Ent¬<lb/>
zweyung ge&#x017F;chwächt, dann in Entartung aufgelö&#x017F;t,<lb/>
endlich von der Reformation im ganzen Norden ge¬<lb/>
&#x017F;türzt, und im Süden wenig&#x017F;tens in ihren Grundve¬<lb/>
&#x017F;ten er&#x017F;chüttert wurde. Ihr folgte im Untergang das<lb/>
Kai&#x017F;erthum, indem es in die Territorialherr&#x017F;chaft<lb/>
hingewelkt; die&#x017F;e &#x017F;elb&#x017F;t löste &#x017F;ich in ihren Ab&#x017F;tractio¬<lb/>
nen auf, und &#x017F;o i&#x017F;t in der &#x017F;chon früher ge&#x017F;childerten<lb/>
Wei&#x017F;e, da, wenn die Blüthe gewelkt, und die Pflanze<lb/>
eingedorrt, das Leben im Samen be&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;en, rück¬<lb/>
kehrt in die Erde, mitten im Reich der allgemeinen<lb/>
Willkühr die ur&#x017F;prüngliche Democratie, wenn auch<lb/>
nicht facti&#x017F;ch, doch <hi rendition="#aq">potentialiter</hi> durch eine zweyte ab¬<lb/>
&#x017F;teigende Bewegung wiederherge&#x017F;tellt.</p><lb/>
      <p>Zwar i&#x017F;t es nicht die alte, &#x017F;pro&#x017F;&#x017F;ende Waldkraft,<lb/>
mit ihrer Fülle von Naturtrieben, die hier zurückge¬<lb/>
kehrt; denn es liegt eine ganze Culturzeit hinter ihr,<lb/>
und die Reproduction i&#x017F;t im Charakter der fort&#x017F;chrei¬<lb/>
tenden Ge&#x017F;chichte vorgegangen: aber was &#x017F;ie nach der<lb/>
Natur&#x017F;eite eingebüßt, i&#x017F;t ihr nach der Gei&#x017F;tigen wie¬<lb/>
der zugewach&#x017F;en. Darum treibt ein innerer In&#x017F;tinkt<lb/>
&#x017F;ie bewußtlos nach Allem hin, wodurch &#x017F;ie den neuen<lb/>
Kreis, der ihr eröffnet i&#x017F;t, erfüllen kann; &#x017F;ie &#x017F;trebt<lb/>
und ringt mit allen ihren Kräften, &#x017F;ich von jener<lb/>
Willkühr vor Allem loszuwinden, bey der, wie &#x017F;ie<lb/>
fühlt, fernerhin kein Verlaß mehr i&#x017F;t, keine Sicher¬<lb/>
heit nach außen, und kein Friede nach innen hin,<lb/>
nicht Würde, Hoffnung oder Liebe.</p><lb/>
      <p>Die&#x017F;e Willkühr &#x017F;elb&#x017F;t hat &#x017F;olcher Stimmung vorge¬<lb/>
arbeitet; jener &#x017F;tati&#x017F;ti&#x017F;che Kram, jene &#x017F;taatswirth&#x017F;chaft¬<lb/>
liche Mä&#x017F;tungslehre, die den Men&#x017F;chen zur Stallfüt¬<lb/>
terung einge&#x017F;tellt, und um des Gewinnes Willen &#x017F;ein<lb/>
Leibliches auf Unko&#x017F;ten des Gei&#x017F;tigen herausgefüttert,<lb/>
und die, wenn es in allem ihr nach Wun&#x017F;ch gegan¬<lb/>
gen, und nicht wider ihren Willen gei&#x017F;tige Erregun¬<lb/>
gen wie Blitze durchgezuckt, am Ende mit jenem &#x017F;cheu߬<lb/>
lichen Cretinism geendet hätte, wo der ganze höhere<lb/>
Men&#x017F;ch in die blos vegetative Sphäre herabge&#x017F;unken,<lb/>
nur noch in den Drü&#x017F;en lebt: das Alles bewies, daß<lb/></p>
    </body>
  </text>
</TEI>
[196/0204] ausgegangen; die Prieſterherrſchaft aber, nachdem ihre Stütze erſt gefallen, gleichfalls durch innere Ent¬ zweyung geſchwächt, dann in Entartung aufgelöſt, endlich von der Reformation im ganzen Norden ge¬ ſtürzt, und im Süden wenigſtens in ihren Grundve¬ ſten erſchüttert wurde. Ihr folgte im Untergang das Kaiſerthum, indem es in die Territorialherrſchaft hingewelkt; dieſe ſelbſt löste ſich in ihren Abſtractio¬ nen auf, und ſo iſt in der ſchon früher geſchilderten Weiſe, da, wenn die Blüthe gewelkt, und die Pflanze eingedorrt, das Leben im Samen beſchloſſen, rück¬ kehrt in die Erde, mitten im Reich der allgemeinen Willkühr die urſprüngliche Democratie, wenn auch nicht factiſch, doch potentialiter durch eine zweyte ab¬ ſteigende Bewegung wiederhergeſtellt. Zwar iſt es nicht die alte, ſproſſende Waldkraft, mit ihrer Fülle von Naturtrieben, die hier zurückge¬ kehrt; denn es liegt eine ganze Culturzeit hinter ihr, und die Reproduction iſt im Charakter der fortſchrei¬ tenden Geſchichte vorgegangen: aber was ſie nach der Naturſeite eingebüßt, iſt ihr nach der Geiſtigen wie¬ der zugewachſen. Darum treibt ein innerer Inſtinkt ſie bewußtlos nach Allem hin, wodurch ſie den neuen Kreis, der ihr eröffnet iſt, erfüllen kann; ſie ſtrebt und ringt mit allen ihren Kräften, ſich von jener Willkühr vor Allem loszuwinden, bey der, wie ſie fühlt, fernerhin kein Verlaß mehr iſt, keine Sicher¬ heit nach außen, und kein Friede nach innen hin, nicht Würde, Hoffnung oder Liebe. Dieſe Willkühr ſelbſt hat ſolcher Stimmung vorge¬ arbeitet; jener ſtatiſtiſche Kram, jene ſtaatswirthſchaft¬ liche Mäſtungslehre, die den Menſchen zur Stallfüt¬ terung eingeſtellt, und um des Gewinnes Willen ſein Leibliches auf Unkoſten des Geiſtigen herausgefüttert, und die, wenn es in allem ihr nach Wunſch gegan¬ gen, und nicht wider ihren Willen geiſtige Erregun¬ gen wie Blitze durchgezuckt, am Ende mit jenem ſcheu߬ lichen Cretinism geendet hätte, wo der ganze höhere Menſch in die blos vegetative Sphäre herabgeſunken, nur noch in den Drüſen lebt: das Alles bewies, daß

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/goerres_revolution_1819
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/goerres_revolution_1819/204
Zitationshilfe: Görres, Joseph von: Teutschland und die Revolution. Koblenz, 1819, S. 196. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goerres_revolution_1819/204>, abgerufen am 03.05.2024.