Glümer, Claire von: Reich zu reich und arm zu arm. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 19. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 255–326. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.Vor der offnen Thüre saß die Mariannette und spann. Ich erkannte sie gleich an der Aehnlichkeit mit unserer Mutter. Im Grase, ihr zu Füßen, saß ein kleines Mädchen mit einem Napf auf dem Schooße, aus dem es abwechselnd einen Löffel voll für sich und einen für den großen Wolfshund schöpfte, der wedelnd vor ihm stand. Aber sobald ich aus dem Walde auf die kleine Wiese trat, machte das Thier Kehrt, stürzte mit wüthendem Gebell auf mich zu, und die Mariannette mußte lange rufen, bis mich der treue Wächter heranließ, so daß ich meinen Namen nennen konnte. Das war eine Verwunderung, eine Freude! Und dies ist dein Kind? sagte ich endlich, indem ich das kleine strampelnde Geschöpf vom Boden aufnahm. Aber da schüttelte die Mariannette den Kopf, wurde blaß und traurig und erzählte mir, daß vor einem Jahre auch ihr Kindchen gestorben sei; diese kleine gehöre den Vidals in der Aventinsmühle, die -- wie das bei wohlhabenden Leuten Gebrauch ist -- meine Schwester als Amme und Pflegerin für das Kind angenommen. Jetzt, in ihrer Einsamkeit, sagte sie, wäre die kleine Claudine ihr einziger Trost. Dabei drückte sie das Kind an sich und weinte so heftig, daß das arme kleine Ding ebenfalls in Thränen ausbrach und ich von der Verständigkeit der Schwester einen schlechten Begriff bekam. Diese Meinung wurde denn auch nicht besser, als ich länger mit ihr zusammen war. Unnützes Klagen Vor der offnen Thüre saß die Mariannette und spann. Ich erkannte sie gleich an der Aehnlichkeit mit unserer Mutter. Im Grase, ihr zu Füßen, saß ein kleines Mädchen mit einem Napf auf dem Schooße, aus dem es abwechselnd einen Löffel voll für sich und einen für den großen Wolfshund schöpfte, der wedelnd vor ihm stand. Aber sobald ich aus dem Walde auf die kleine Wiese trat, machte das Thier Kehrt, stürzte mit wüthendem Gebell auf mich zu, und die Mariannette mußte lange rufen, bis mich der treue Wächter heranließ, so daß ich meinen Namen nennen konnte. Das war eine Verwunderung, eine Freude! Und dies ist dein Kind? sagte ich endlich, indem ich das kleine strampelnde Geschöpf vom Boden aufnahm. Aber da schüttelte die Mariannette den Kopf, wurde blaß und traurig und erzählte mir, daß vor einem Jahre auch ihr Kindchen gestorben sei; diese kleine gehöre den Vidals in der Aventinsmühle, die — wie das bei wohlhabenden Leuten Gebrauch ist — meine Schwester als Amme und Pflegerin für das Kind angenommen. Jetzt, in ihrer Einsamkeit, sagte sie, wäre die kleine Claudine ihr einziger Trost. Dabei drückte sie das Kind an sich und weinte so heftig, daß das arme kleine Ding ebenfalls in Thränen ausbrach und ich von der Verständigkeit der Schwester einen schlechten Begriff bekam. Diese Meinung wurde denn auch nicht besser, als ich länger mit ihr zusammen war. Unnützes Klagen <TEI> <text> <body> <div type="chapter" n="5"> <pb facs="#f0059"/> <p>Vor der offnen Thüre saß die Mariannette und spann. Ich erkannte sie gleich an der Aehnlichkeit mit unserer Mutter. Im Grase, ihr zu Füßen, saß ein kleines Mädchen mit einem Napf auf dem Schooße, aus dem es abwechselnd einen Löffel voll für sich und einen für den großen Wolfshund schöpfte, der wedelnd vor ihm stand. Aber sobald ich aus dem Walde auf die kleine Wiese trat, machte das Thier Kehrt, stürzte mit wüthendem Gebell auf mich zu, und die Mariannette mußte lange rufen, bis mich der treue Wächter heranließ, so daß ich meinen Namen nennen konnte.</p><lb/> <p>Das war eine Verwunderung, eine Freude! Und dies ist dein Kind? sagte ich endlich, indem ich das kleine strampelnde Geschöpf vom Boden aufnahm. Aber da schüttelte die Mariannette den Kopf, wurde blaß und traurig und erzählte mir, daß vor einem Jahre auch ihr Kindchen gestorben sei; diese kleine gehöre den Vidals in der Aventinsmühle, die — wie das bei wohlhabenden Leuten Gebrauch ist — meine Schwester als Amme und Pflegerin für das Kind angenommen. Jetzt, in ihrer Einsamkeit, sagte sie, wäre die kleine Claudine ihr einziger Trost. Dabei drückte sie das Kind an sich und weinte so heftig, daß das arme kleine Ding ebenfalls in Thränen ausbrach und ich von der Verständigkeit der Schwester einen schlechten Begriff bekam.</p><lb/> <p>Diese Meinung wurde denn auch nicht besser, als ich länger mit ihr zusammen war. Unnützes Klagen<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0059]
Vor der offnen Thüre saß die Mariannette und spann. Ich erkannte sie gleich an der Aehnlichkeit mit unserer Mutter. Im Grase, ihr zu Füßen, saß ein kleines Mädchen mit einem Napf auf dem Schooße, aus dem es abwechselnd einen Löffel voll für sich und einen für den großen Wolfshund schöpfte, der wedelnd vor ihm stand. Aber sobald ich aus dem Walde auf die kleine Wiese trat, machte das Thier Kehrt, stürzte mit wüthendem Gebell auf mich zu, und die Mariannette mußte lange rufen, bis mich der treue Wächter heranließ, so daß ich meinen Namen nennen konnte.
Das war eine Verwunderung, eine Freude! Und dies ist dein Kind? sagte ich endlich, indem ich das kleine strampelnde Geschöpf vom Boden aufnahm. Aber da schüttelte die Mariannette den Kopf, wurde blaß und traurig und erzählte mir, daß vor einem Jahre auch ihr Kindchen gestorben sei; diese kleine gehöre den Vidals in der Aventinsmühle, die — wie das bei wohlhabenden Leuten Gebrauch ist — meine Schwester als Amme und Pflegerin für das Kind angenommen. Jetzt, in ihrer Einsamkeit, sagte sie, wäre die kleine Claudine ihr einziger Trost. Dabei drückte sie das Kind an sich und weinte so heftig, daß das arme kleine Ding ebenfalls in Thränen ausbrach und ich von der Verständigkeit der Schwester einen schlechten Begriff bekam.
Diese Meinung wurde denn auch nicht besser, als ich länger mit ihr zusammen war. Unnützes Klagen
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