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Glück, Christian Friedrich von: Versuch einer ausführlichen Erläuterung der Pandecten nach Hellfeld ein Commentar für meine Zuhörer. Erlangen, 1791.

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1. Buch. 8. Tit. §. 179.
Verstande heißt also Besitz, Possessio, die körperliche De-
tenzion einer Sache, das ist, die körperliche Handlung,
vermöge welcher man eine Sache dergestalt in seiner
Gewalt hat, daß man darüber ungehindert schalten und
disponiren kann. Auch den römischen Rechtsgelehrten
ist diese Bedeutung nicht unbekannt. Dies beweißt
L. 1. pr. D. de acquir. vel amittenda possess. Possessio
appellata est, ut labeo ait, a sedibus, quasi positio:
quia naturaliter tenetur ab eo, qui ei insistit.
Allein
im eigentlichen iuristischen Sinne heißt Besitz
(possessio iuris civilis) die Detention einer körperlichen Sa-
che, verbunden mit der Absicht, dieselbe für sich zu haben
und zu behalten, jedoch verschieden von der Proprietät.
In dieser Bedeutung des Civilrechts sagen unsere Gesetze,
possessio sey nicht blos corporis, sondern auch animi 38);
das ist, die bloße Gewalt über die Sache sey zu einem
solchen Besitz allein nicht hinreichend, sondern dazu gehö-
re auch der Wille, solche auszuüben, und die Absicht, die
Sache für sich zu behalten. Daher kann ein unmündig
Kind so wenig als ein Sinnloser für sich allein einen
eigentlichen Besitz im Sinne des Civilrechts erlangen,
licet maxime corpore suo rem contingant, wie Pau-
lus
39) sagt, weil ihnen Bewustseyn und Willen fehlt.
Der Vormund oder Curator muß also diesen Mangel
vertreten. Es wäre denn, daß der Pupill schon zu den
Jahren gekommen, da er sich sinnliche Begriffe und Vor-
stellung machen könnte. (Si eius aetatis sint, ut intellectum
capiant
) Unter dieser Einschränkung nahm Paulus die
Meinung des Ofilius und Nerva an. Auf solche Art
unterscheidet sich nun der iuristische Begriff der Possession

von
38) L. 1. §. 15. D. Si is, qui testam. liber esse iuss. L. 3. §. 1.
D. de acquir. vel amitt. possess.
39) L. 1. §. 3. D. eodem.

1. Buch. 8. Tit. §. 179.
Verſtande heißt alſo Beſitz, Poſſeſſio, die koͤrperliche De-
tenzion einer Sache, das iſt, die koͤrperliche Handlung,
vermoͤge welcher man eine Sache dergeſtalt in ſeiner
Gewalt hat, daß man daruͤber ungehindert ſchalten und
disponiren kann. Auch den roͤmiſchen Rechtsgelehrten
iſt dieſe Bedeutung nicht unbekannt. Dies beweißt
L. 1. pr. D. de acquir. vel amittenda poſſeſſ. Poſſeſſio
appellata eſt, ut labeo ait, a ſedibus, quaſi poſitio:
quia naturaliter tenetur ab eo, qui ei inſiſtit.
Allein
im eigentlichen iuriſtiſchen Sinne heißt Beſitz
(poſſeſſio iuris civilis) die Detention einer koͤrperlichen Sa-
che, verbunden mit der Abſicht, dieſelbe fuͤr ſich zu haben
und zu behalten, jedoch verſchieden von der Proprietaͤt.
In dieſer Bedeutung des Civilrechts ſagen unſere Geſetze,
poſſeſſio ſey nicht blos corporis, ſondern auch animi 38);
das iſt, die bloße Gewalt uͤber die Sache ſey zu einem
ſolchen Beſitz allein nicht hinreichend, ſondern dazu gehoͤ-
re auch der Wille, ſolche auszuuͤben, und die Abſicht, die
Sache fuͤr ſich zu behalten. Daher kann ein unmuͤndig
Kind ſo wenig als ein Sinnloſer fuͤr ſich allein einen
eigentlichen Beſitz im Sinne des Civilrechts erlangen,
licet maxime corpore ſuo rem contingant, wie Pau-
lus
39) ſagt, weil ihnen Bewuſtſeyn und Willen fehlt.
Der Vormund oder Curator muß alſo dieſen Mangel
vertreten. Es waͤre denn, daß der Pupill ſchon zu den
Jahren gekommen, da er ſich ſinnliche Begriffe und Vor-
ſtellung machen koͤnnte. (Si eius aetatis ſint, ut intellectum
capiant
) Unter dieſer Einſchraͤnkung nahm Paulus die
Meinung des Ofilius und Nerva an. Auf ſolche Art
unterſcheidet ſich nun der iuriſtiſche Begriff der Poſſeſſion

von
38) L. 1. §. 15. D. Si is, qui teſtam. liber eſſe iuſſ. L. 3. §. 1.
D. de acquir. vel amitt. poſſeſſ.
39) L. 1. §. 3. D. eodem.
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[506/0520] 1. Buch. 8. Tit. §. 179. Verſtande heißt alſo Beſitz, Poſſeſſio, die koͤrperliche De- tenzion einer Sache, das iſt, die koͤrperliche Handlung, vermoͤge welcher man eine Sache dergeſtalt in ſeiner Gewalt hat, daß man daruͤber ungehindert ſchalten und disponiren kann. Auch den roͤmiſchen Rechtsgelehrten iſt dieſe Bedeutung nicht unbekannt. Dies beweißt L. 1. pr. D. de acquir. vel amittenda poſſeſſ. Poſſeſſio appellata eſt, ut labeo ait, a ſedibus, quaſi poſitio: quia naturaliter tenetur ab eo, qui ei inſiſtit. Allein im eigentlichen iuriſtiſchen Sinne heißt Beſitz (poſſeſſio iuris civilis) die Detention einer koͤrperlichen Sa- che, verbunden mit der Abſicht, dieſelbe fuͤr ſich zu haben und zu behalten, jedoch verſchieden von der Proprietaͤt. In dieſer Bedeutung des Civilrechts ſagen unſere Geſetze, poſſeſſio ſey nicht blos corporis, ſondern auch animi 38); das iſt, die bloße Gewalt uͤber die Sache ſey zu einem ſolchen Beſitz allein nicht hinreichend, ſondern dazu gehoͤ- re auch der Wille, ſolche auszuuͤben, und die Abſicht, die Sache fuͤr ſich zu behalten. Daher kann ein unmuͤndig Kind ſo wenig als ein Sinnloſer fuͤr ſich allein einen eigentlichen Beſitz im Sinne des Civilrechts erlangen, licet maxime corpore ſuo rem contingant, wie Pau- lus 39) ſagt, weil ihnen Bewuſtſeyn und Willen fehlt. Der Vormund oder Curator muß alſo dieſen Mangel vertreten. Es waͤre denn, daß der Pupill ſchon zu den Jahren gekommen, da er ſich ſinnliche Begriffe und Vor- ſtellung machen koͤnnte. (Si eius aetatis ſint, ut intellectum capiant) Unter dieſer Einſchraͤnkung nahm Paulus die Meinung des Ofilius und Nerva an. Auf ſolche Art unterſcheidet ſich nun der iuriſtiſche Begriff der Poſſeſſion von 38) L. 1. §. 15. D. Si is, qui teſtam. liber eſſe iuſſ. L. 3. §. 1. D. de acquir. vel amitt. poſſeſſ. 39) L. 1. §. 3. D. eodem.

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Zitationshilfe: Glück, Christian Friedrich von: Versuch einer ausführlichen Erläuterung der Pandecten nach Hellfeld ein Commentar für meine Zuhörer. Erlangen, 1791, S. 506. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/glueck_pandecten02_1791/520>, abgerufen am 04.07.2024.