Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Glück, Christian Friedrich von: Versuch einer ausführlichen Erläuterung der Pandecten nach Hellfeld ein Commentar für meine Zuhörer. Erlangen, 1790.

Bild:
<< vorherige Seite

de Iustitia et Iure.
gelehrten mit der Billigkeit in dieser zweiten Bedeutung
verknüpfen mögen, so kommen sie doch fast alle darinn
überein, daß das strenge Recht in einer steifen An-
hänglichkeit an die Theorie, die Billigkeit aber in ei-
nem vernünftigen Ermessen der Folgen bestehe, welche
die Anwendung derselben auf das Wohl des Staats
und die einzelnen Mitglieder desselben haben könnte 32).
Selbst die römischen Gesetze 33) empfehlen dem Richter
diese Billigkeit nachdrücklich, sie weisen ihn an, solche
dem strengen Rechte vorzuziehen, insofern das Gesez
dadurch nicht abgeändert, sondern nur seiner Absicht ge-
mäß angewendet wird. Denn die Billigkeit muß keine
Abweichung von einer verbindlichen Regel

enthalten. Vielmehr wird in ausdrücklichen Gesetzen 34)
dem Richter befohlen, auch ein hartes Gesez, wenn
es deutlich und categorisch ist, zu befolgen, und die
Beobachtung der Billigkeit dem Gesezgeber anheim zu
stellen 35). Man merke sich also folgende Regel: nur

als-
est habitus mentis vel doctrina, ubi secundum aequalitatis
regulas, ex rationis rationciniis haustas, hoc vel illud in-
terpretando, sive iuri supplendo sive demendo, ad imbecil-
litatem generis humani respiciendo, benigne diiudicamus.
32) kress in Diss. de Iure summo, iniuria sum-
ma
Cap. 2. §. 6. et 7.
33) L. 8. C. de iudiciis. Placuit in omnibus rebus prae-
cipuam esse iustitiae, aequitatisque, quam stricti iuris
rationem.
34) L. 12. §. 1. D. qui et a quib. manumissi. Quod qui-
dem perquam durum est; sed ita Lex scripta est.
35) L. 1. C. de LL. Inter aequitatem, iusque interpositam
interpretationem nobis solis et oportet et licet inspice-
re.
Hier war von einer, dem Gesetze zuwiderlaufenden
Billigkeit die Rede, die der eine Theil für sich anführte,
da hingegen der andere Theil das offenbare Recht für
sich
N 2

de Iuſtitia et Iure.
gelehrten mit der Billigkeit in dieſer zweiten Bedeutung
verknuͤpfen moͤgen, ſo kommen ſie doch faſt alle darinn
uͤberein, daß das ſtrenge Recht in einer ſteifen An-
haͤnglichkeit an die Theorie, die Billigkeit aber in ei-
nem vernuͤnftigen Ermeſſen der Folgen beſtehe, welche
die Anwendung derſelben auf das Wohl des Staats
und die einzelnen Mitglieder deſſelben haben koͤnnte 32).
Selbſt die roͤmiſchen Geſetze 33) empfehlen dem Richter
dieſe Billigkeit nachdruͤcklich, ſie weiſen ihn an, ſolche
dem ſtrengen Rechte vorzuziehen, inſofern das Geſez
dadurch nicht abgeaͤndert, ſondern nur ſeiner Abſicht ge-
maͤß angewendet wird. Denn die Billigkeit muß keine
Abweichung von einer verbindlichen Regel

enthalten. Vielmehr wird in ausdruͤcklichen Geſetzen 34)
dem Richter befohlen, auch ein hartes Geſez, wenn
es deutlich und categoriſch iſt, zu befolgen, und die
Beobachtung der Billigkeit dem Geſezgeber anheim zu
ſtellen 35). Man merke ſich alſo folgende Regel: nur

als-
eſt habitus mentis vel doctrina, ubi ſecundum aequalitatis
regulas, ex rationis rationciniis hauſtas, hoc vel illud in-
terpretando, ſive iuri ſupplendo ſive demendo, ad imbecil-
litatem generis humani reſpiciendo, benigne diiudicamus.
32) kress in Diſſ. de Iure ſummo, iniuria ſum-
ma
Cap. 2. §. 6. et 7.
33) L. 8. C. de iudiciis. Placuit in omnibus rebus prae-
cipuam eſſe iuſtitiae, aequitatisque, quam ſtricti iuris
rationem.
34) L. 12. §. 1. D. qui et a quib. manumiſſi. Quod qui-
dem perquam durum eſt; ſed ita Lex ſcripta eſt.
35) L. 1. C. de LL. Inter aequitatem, iusque interpoſitam
interpretationem nobis ſolis et oportet et licet inſpice-
re.
Hier war von einer, dem Geſetze zuwiderlaufenden
Billigkeit die Rede, die der eine Theil fuͤr ſich anfuͤhrte,
da hingegen der andere Theil das offenbare Recht fuͤr
ſich
N 2
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0215" n="195"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">de Iu&#x017F;titia et Iure.</hi></fw><lb/>
gelehrten mit der Billigkeit in die&#x017F;er zweiten Bedeutung<lb/>
verknu&#x0364;pfen mo&#x0364;gen, &#x017F;o kommen &#x017F;ie doch fa&#x017F;t alle darinn<lb/>
u&#x0364;berein, daß das <hi rendition="#fr">&#x017F;trenge Recht</hi> in einer &#x017F;teifen An-<lb/>
ha&#x0364;nglichkeit an die Theorie, die <hi rendition="#fr">Billigkeit</hi> aber in ei-<lb/>
nem vernu&#x0364;nftigen Erme&#x017F;&#x017F;en der Folgen be&#x017F;tehe, welche<lb/>
die Anwendung der&#x017F;elben auf das Wohl des Staats<lb/>
und die einzelnen Mitglieder de&#x017F;&#x017F;elben haben ko&#x0364;nnte <note place="foot" n="32)"><hi rendition="#aq"><hi rendition="#k">kress</hi> in Di&#x017F;&#x017F;. <hi rendition="#g">de Iure &#x017F;ummo, iniuria &#x017F;um-<lb/>
ma</hi> Cap. 2. §. 6. et 7.</hi></note>.<lb/>
Selb&#x017F;t die ro&#x0364;mi&#x017F;chen Ge&#x017F;etze <note place="foot" n="33)"><hi rendition="#aq"><hi rendition="#i">L. 8. C. de iudiciis.</hi> Placuit in omnibus rebus prae-<lb/>
cipuam e&#x017F;&#x017F;e <hi rendition="#i">iu&#x017F;titiae, aequitatisque,</hi> quam <hi rendition="#i">&#x017F;tricti iuris</hi><lb/>
rationem.</hi></note> empfehlen dem Richter<lb/>
die&#x017F;e Billigkeit nachdru&#x0364;cklich, &#x017F;ie wei&#x017F;en ihn an, &#x017F;olche<lb/>
dem &#x017F;trengen Rechte vorzuziehen, in&#x017F;ofern das Ge&#x017F;ez<lb/>
dadurch nicht abgea&#x0364;ndert, &#x017F;ondern nur &#x017F;einer Ab&#x017F;icht ge-<lb/>
ma&#x0364;ß angewendet wird. Denn die Billigkeit muß <hi rendition="#g">keine<lb/>
Abweichung von einer verbindlichen Regel</hi><lb/>
enthalten. Vielmehr wird in ausdru&#x0364;cklichen Ge&#x017F;etzen <note place="foot" n="34)"><hi rendition="#aq"><hi rendition="#i">L. 12. §. 1. D. qui et a quib. manumi&#x017F;&#x017F;i.</hi> Quod qui-<lb/>
dem perquam <hi rendition="#i">durum</hi> e&#x017F;t; <hi rendition="#i">&#x017F;ed ita Lex &#x017F;cripta e&#x017F;t.</hi></hi></note><lb/>
dem Richter befohlen, auch ein hartes Ge&#x017F;ez, wenn<lb/>
es deutlich und categori&#x017F;ch i&#x017F;t, zu befolgen, und die<lb/>
Beobachtung der Billigkeit dem Ge&#x017F;ezgeber anheim zu<lb/>
&#x017F;tellen <note xml:id="seg2pn_20_1" next="#seg2pn_20_2" place="foot" n="35)"><hi rendition="#aq"><hi rendition="#i">L. 1. C. de LL.</hi> Inter <hi rendition="#i">aequitatem, iusque</hi> interpo&#x017F;itam<lb/>
interpretationem nobis &#x017F;olis et oportet et licet in&#x017F;pice-<lb/>
re.</hi> Hier war von einer, dem Ge&#x017F;etze zuwiderlaufenden<lb/>
Billigkeit die Rede, die der eine Theil fu&#x0364;r &#x017F;ich anfu&#x0364;hrte,<lb/>
da hingegen der andere Theil das offenbare Recht fu&#x0364;r<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">&#x017F;ich</fw></note>. Man merke &#x017F;ich al&#x017F;o folgende Regel: <hi rendition="#g">nur</hi><lb/>
<fw place="bottom" type="sig">N 2</fw><fw place="bottom" type="catch"><hi rendition="#g">als-</hi></fw><lb/><note xml:id="seg2pn_19_2" prev="#seg2pn_19_1" place="foot" n="31)"><hi rendition="#i"><hi rendition="#aq">e&#x017F;t habitus mentis vel doctrina, ubi &#x017F;ecundum aequalitatis<lb/>
regulas, ex rationis rationciniis hau&#x017F;tas, hoc vel illud in-<lb/>
terpretando, &#x017F;ive iuri &#x017F;upplendo &#x017F;ive demendo, ad imbecil-<lb/>
litatem generis humani re&#x017F;piciendo, benigne diiudicamus.</hi></hi></note><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[195/0215] de Iuſtitia et Iure. gelehrten mit der Billigkeit in dieſer zweiten Bedeutung verknuͤpfen moͤgen, ſo kommen ſie doch faſt alle darinn uͤberein, daß das ſtrenge Recht in einer ſteifen An- haͤnglichkeit an die Theorie, die Billigkeit aber in ei- nem vernuͤnftigen Ermeſſen der Folgen beſtehe, welche die Anwendung derſelben auf das Wohl des Staats und die einzelnen Mitglieder deſſelben haben koͤnnte 32). Selbſt die roͤmiſchen Geſetze 33) empfehlen dem Richter dieſe Billigkeit nachdruͤcklich, ſie weiſen ihn an, ſolche dem ſtrengen Rechte vorzuziehen, inſofern das Geſez dadurch nicht abgeaͤndert, ſondern nur ſeiner Abſicht ge- maͤß angewendet wird. Denn die Billigkeit muß keine Abweichung von einer verbindlichen Regel enthalten. Vielmehr wird in ausdruͤcklichen Geſetzen 34) dem Richter befohlen, auch ein hartes Geſez, wenn es deutlich und categoriſch iſt, zu befolgen, und die Beobachtung der Billigkeit dem Geſezgeber anheim zu ſtellen 35). Man merke ſich alſo folgende Regel: nur als- 31) 32) kress in Diſſ. de Iure ſummo, iniuria ſum- ma Cap. 2. §. 6. et 7. 33) L. 8. C. de iudiciis. Placuit in omnibus rebus prae- cipuam eſſe iuſtitiae, aequitatisque, quam ſtricti iuris rationem. 34) L. 12. §. 1. D. qui et a quib. manumiſſi. Quod qui- dem perquam durum eſt; ſed ita Lex ſcripta eſt. 35) L. 1. C. de LL. Inter aequitatem, iusque interpoſitam interpretationem nobis ſolis et oportet et licet inſpice- re. Hier war von einer, dem Geſetze zuwiderlaufenden Billigkeit die Rede, die der eine Theil fuͤr ſich anfuͤhrte, da hingegen der andere Theil das offenbare Recht fuͤr ſich 31) eſt habitus mentis vel doctrina, ubi ſecundum aequalitatis regulas, ex rationis rationciniis hauſtas, hoc vel illud in- terpretando, ſive iuri ſupplendo ſive demendo, ad imbecil- litatem generis humani reſpiciendo, benigne diiudicamus. N 2

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/glueck_pandecten01_1790
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/glueck_pandecten01_1790/215
Zitationshilfe: Glück, Christian Friedrich von: Versuch einer ausführlichen Erläuterung der Pandecten nach Hellfeld ein Commentar für meine Zuhörer. Erlangen, 1790, S. 195. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/glueck_pandecten01_1790/215>, abgerufen am 05.10.2024.