Morgens seinem eingekerkerten Blik nicht ver- gönnt ist, dann würd' eine sanfte Morgen-Luft mich weken und die frohen Concerte der Vögel. Dann flög' ich aus meiner Ruhe, und gieng' Au- roren entgegen, auf blumichte Wiesen, oder auf die nahen Hügel, und säng' entzükt frohe Lieder vom Hügel herunter. Denn, was entzüket mehr als die schöne Natur, wenn sie in harmonischer Unordnung ihre unendlich manigfaltigen Schön- heiten verwindet? Zukühner Mensch! was unter- windest du dich die Natur durch weither nach- ahmende Künste zu schmüken? Baue Labyrinte von grünen Wänden, und lass den gespizten Taxus in abgemessener Weite empor stehn, die Gänge seyen reiner Sand, dass kein Gesträuchgen den wandelnden Fusstritt verwirre; mir gefällt die ländliche Wiese und der verwilderte Hain, ihre Manigfaltigkeit und Verwirrung hat die Natur nach geheimern Regeln der Harmonie und der Schönheit geordnet, die unsere Seele voll sanften Entzükens empfindt.
Morgens ſeinem eingekerkerten Blik nicht ver- gönnt iſt, dann würd’ eine ſanfte Morgen-Luft mich weken und die frohen Concerte der Vögel. Dann flög’ ich aus meiner Ruhe, und gieng’ Au- roren entgegen, auf blumichte Wieſen, oder auf die nahen Hügel, und ſäng’ entzükt frohe Lieder vom Hügel herunter. Denn, was entzüket mehr als die ſchöne Natur, wenn ſie in harmoniſcher Unordnung ihre unendlich manigfaltigen Schön- heiten verwindet? Zukühner Menſch! was unter- windeſt du dich die Natur durch weither nach- ahmende Künſte zu ſchmüken? Baue Labyrinte von grünen Wänden, und laſs den geſpizten Taxus in abgemeſſener Weite empor ſtehn, die Gänge ſeyen reiner Sand, daſs kein Geſträuchgen den wandelnden Fuſstritt verwirre; mir gefällt die ländliche Wieſe und der verwilderte Hain, ihre Manigfaltigkeit und Verwirrung hat die Natur nach geheimern Regeln der Harmonie und der Schönheit geordnet, die unſere Seele voll ſanften Entzükens empfindt.
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Morgens ſeinem eingekerkerten Blik nicht ver-
gönnt iſt, dann würd’ eine ſanfte Morgen-Luft
mich weken und die frohen Concerte der Vögel.
Dann flög’ ich aus meiner Ruhe, und gieng’ Au-
roren entgegen, auf blumichte Wieſen, oder auf
die nahen Hügel, und ſäng’ entzükt frohe Lieder
vom Hügel herunter. Denn, was entzüket mehr
als die ſchöne Natur, wenn ſie in harmoniſcher
Unordnung ihre unendlich manigfaltigen Schön-
heiten verwindet? Zukühner Menſch! was unter-
windeſt du dich die Natur durch weither nach-
ahmende Künſte zu ſchmüken? Baue Labyrinte
von grünen Wänden, und laſs den geſpizten Taxus
in abgemeſſener Weite empor ſtehn, die Gänge
ſeyen reiner Sand, daſs kein Geſträuchgen den
wandelnden Fuſstritt verwirre; mir gefällt die
ländliche Wieſe und der verwilderte Hain, ihre
Manigfaltigkeit und Verwirrung hat die Natur
nach geheimern Regeln der Harmonie und der
Schönheit geordnet, die unſere Seele voll ſanften
Entzükens empfindt.
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[Geßner, Salomon]: Idyllen. Zürich, 1756, S. 126. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gessner_idyllen_1756/131>, abgerufen am 25.07.2024.
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