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[Geßner, Salomon]: Idyllen. Zürich, 1756.

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unterhöhlten Wurzeln und durch das wilde Gewe-
be von Gesträuchen? Ich will deinen Wellen fol-
gen, vielleicht führest du mich ödern Gegenden
zu; Himmel! welche Aussicht breitet sich vor
meinem Aug aus! hier steh ich an dem Saum einer
Felsenwand und seh ins niedere Thal; hier will
ich mich auf das zerrissene überhangende Felsen-
Stük sezen, wo der Bach stäubend in den dunkeln
Tannenwald herunter sich stürzt, und rauschet, wie
wenn es fernher donnert. Dürres Gesträuch hängt
von dem Felsen-Stük traurig herunter, wie das
wilde Haar über die Menschen-feindliche Stirne
des Timons hängt, der noch kein Mädchen ge-
küsst hat. Ich will in das Thal hinunter steigen,
und mit traurig irrendem Fuss da wandeln, ich
will an dem Fluss wandeln, der durch das Thal
schleicht. Sey mir gegrüsst einsames Thal, und
du Fluss, und du schwarzer Wald; hier auf dei-
nem Sand, o Ufer, will ich izt irren; einsied-
lerisch will ich in deinem Schatten ruhen, me-

unterhöhlten Wurzeln und durch das wilde Gewe-
be von Geſträuchen? Ich will deinen Wellen fol-
gen, vielleicht führeſt du mich ödern Gegenden
zu; Himmel! welche Ausſicht breitet ſich vor
meinem Aug aus! hier ſteh ich an dem Saum einer
Felſenwand und ſeh ins niedere Thal; hier will
ich mich auf das zerriſſene überhangende Felſen-
Stük ſezen, wo der Bach ſtäubend in den dunkeln
Tannenwald herunter ſich ſtürzt, und rauſchet, wie
wenn es fernher donnert. Dürres Geſträuch hängt
von dem Felſen-Stük traurig herunter, wie das
wilde Haar über die Menſchen-feindliche Stirne
des Timons hängt, der noch kein Mädchen ge-
küſst hat. Ich will in das Thal hinunter ſteigen,
und mit traurig irrendem Fuſs da wandeln, ich
will an dem Fluſs wandeln, der durch das Thal
ſchleicht. Sey mir gegrüſst einſames Thal, und
du Fluſs, und du ſchwarzer Wald; hier auf dei-
nem Sand, o Ufer, will ich izt irren; einſied-
leriſch will ich in deinem Schatten ruhen, me-

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[104/0109] unterhöhlten Wurzeln und durch das wilde Gewe- be von Geſträuchen? Ich will deinen Wellen fol- gen, vielleicht führeſt du mich ödern Gegenden zu; Himmel! welche Ausſicht breitet ſich vor meinem Aug aus! hier ſteh ich an dem Saum einer Felſenwand und ſeh ins niedere Thal; hier will ich mich auf das zerriſſene überhangende Felſen- Stük ſezen, wo der Bach ſtäubend in den dunkeln Tannenwald herunter ſich ſtürzt, und rauſchet, wie wenn es fernher donnert. Dürres Geſträuch hängt von dem Felſen-Stük traurig herunter, wie das wilde Haar über die Menſchen-feindliche Stirne des Timons hängt, der noch kein Mädchen ge- küſst hat. Ich will in das Thal hinunter ſteigen, und mit traurig irrendem Fuſs da wandeln, ich will an dem Fluſs wandeln, der durch das Thal ſchleicht. Sey mir gegrüſst einſames Thal, und du Fluſs, und du ſchwarzer Wald; hier auf dei- nem Sand, o Ufer, will ich izt irren; einſied- leriſch will ich in deinem Schatten ruhen, me-

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Zitationshilfe: [Geßner, Salomon]: Idyllen. Zürich, 1756, S. 104. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gessner_idyllen_1756/109>, abgerufen am 10.05.2024.