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Gerstner, Franz Joseph von: Handbuch der Mechanik. Bd. 2: Mechanik flüssiger Körper. Prag, 1832.

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IV. Kapitel.
Bewegung des Wassers in Röhren mit Rücksicht auf
den Widerstand der Wände.

§. 128.

Wir haben im vorigen Kapitel sowohl auf analytischem Wege als durch eine grosse
Anzahl Erfahrungen bewiesen, dass das Wasser aus Gefässen mit derselben Geschwindig-
keit ausfliesst, welche allen Körpern im freien Falle von der Oberfläche des Wasserstandes
bis zum ausfliessenden Wasserstrahle von der Schwere beigebracht wird, und dass hierbei
weder die Länge des Weges, welchen die Wassertheile längst den Wänden der Gefässe
oder zwischen den andern Wassertheilen zurücklegen, noch die Richtung des ausfliessen-
den Wasserstrahles zu berücksichtigen ist. Wenn wir demnach die Höhe des Wasserstan-
des über der Mitte der Oeffnung = h und die Fallhöhe der schweren Körper in der ersten
Sekunde = g setzen, so ist die Geschwindigkeit des ausfliessenden Wassers c = [Formel 1]
und dieselbe erleidet selbst durch die Zusammenziehung, welche man an dem Wasser-
strahl auf einer kurzen Entfernung von der Oeffnung beobachtet, keine Aenderung, wie
ebenfalls im vorigen Kapitel gezeigt wurde.

Da dieser Satz als eine allgemeine Folge der Schwerkraft und des Druckes, welchen
die ausfliessenden Wassertheile von dem im Gefässe darüber stehenden ruhigen Wasser
erfahren, anzusehen ist, und da die unveränderte Mittheilung dieser vereinten Kraft
nur bei dem sehr geringen Zusammenhange der Theile und der vollkommenen Flüssigkeit
des Wassers Statt findet, so glaubte man, dass das Wasser bei seiner Bewegung in
Röhren auch am Ende desselben mit gleicher Geschwindigkeit c = [Formel 2] ausfliessen
und dass demnach auch eine horizontale Röhrenleitung von grösserer oder kleinerer
Länge einerlei Wassermenge geben müsse. Man war der Meinung, dass, wenn auch
einige Wassertheile an den Röhrenwänden so wie bei der Reibung fester Körper einen
Widerstand finden, und dadurch in ihrer Bewegung aufgehalten würden, doch die in-
nern Wassertheile, welche nicht mehr an den Wänden, sondern an andern vollkommen
flüssigen Wassertheilen fortfliessen, von ihrer durch den Druck des Wasserstandes im
Behälter erlangten Geschwindigkeit c = [Formel 3] nichts verlieren könnten.

Diesen Gründen stand jedoch die Erfahrung entgegen, und man befand sich in
sehr grosser Verlegenheit, als man bei längern Wasserleitungen und vorzüglich bei jenen
von Marly nach Versailles gesehen hatte, dass bei weitem nicht dieselbe Wassermenge

IV. Kapitel.
Bewegung des Wassers in Röhren mit Rücksicht auf
den Widerstand der Wände.

§. 128.

Wir haben im vorigen Kapitel sowohl auf analytischem Wege als durch eine grosse
Anzahl Erfahrungen bewiesen, dass das Wasser aus Gefässen mit derselben Geschwindig-
keit ausfliesst, welche allen Körpern im freien Falle von der Oberfläche des Wasserstandes
bis zum ausfliessenden Wasserstrahle von der Schwere beigebracht wird, und dass hierbei
weder die Länge des Weges, welchen die Wassertheile längst den Wänden der Gefässe
oder zwischen den andern Wassertheilen zurücklegen, noch die Richtung des ausfliessen-
den Wasserstrahles zu berücksichtigen ist. Wenn wir demnach die Höhe des Wasserstan-
des über der Mitte der Oeffnung = h und die Fallhöhe der schweren Körper in der ersten
Sekunde = g setzen, so ist die Geschwindigkeit des ausfliessenden Wassers c = [Formel 1]
und dieselbe erleidet selbst durch die Zusammenziehung, welche man an dem Wasser-
strahl auf einer kurzen Entfernung von der Oeffnung beobachtet, keine Aenderung, wie
ebenfalls im vorigen Kapitel gezeigt wurde.

Da dieser Satz als eine allgemeine Folge der Schwerkraft und des Druckes, welchen
die ausfliessenden Wassertheile von dem im Gefässe darüber stehenden ruhigen Wasser
erfahren, anzusehen ist, und da die unveränderte Mittheilung dieser vereinten Kraft
nur bei dem sehr geringen Zusammenhange der Theile und der vollkommenen Flüssigkeit
des Wassers Statt findet, so glaubte man, dass das Wasser bei seiner Bewegung in
Röhren auch am Ende desselben mit gleicher Geschwindigkeit c = [Formel 2] ausfliessen
und dass demnach auch eine horizontale Röhrenleitung von grösserer oder kleinerer
Länge einerlei Wassermenge geben müsse. Man war der Meinung, dass, wenn auch
einige Wassertheile an den Röhrenwänden so wie bei der Reibung fester Körper einen
Widerstand finden, und dadurch in ihrer Bewegung aufgehalten würden, doch die in-
nern Wassertheile, welche nicht mehr an den Wänden, sondern an andern vollkommen
flüssigen Wassertheilen fortfliessen, von ihrer durch den Druck des Wasserstandes im
Behälter erlangten Geschwindigkeit c = [Formel 3] nichts verlieren könnten.

Diesen Gründen stand jedoch die Erfahrung entgegen, und man befand sich in
sehr grosser Verlegenheit, als man bei längern Wasserleitungen und vorzüglich bei jenen
von Marly nach Versailles gesehen hatte, dass bei weitem nicht dieselbe Wassermenge

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[175/0193] IV. Kapitel. Bewegung des Wassers in Röhren mit Rücksicht auf den Widerstand der Wände. §. 128. Wir haben im vorigen Kapitel sowohl auf analytischem Wege als durch eine grosse Anzahl Erfahrungen bewiesen, dass das Wasser aus Gefässen mit derselben Geschwindig- keit ausfliesst, welche allen Körpern im freien Falle von der Oberfläche des Wasserstandes bis zum ausfliessenden Wasserstrahle von der Schwere beigebracht wird, und dass hierbei weder die Länge des Weges, welchen die Wassertheile längst den Wänden der Gefässe oder zwischen den andern Wassertheilen zurücklegen, noch die Richtung des ausfliessen- den Wasserstrahles zu berücksichtigen ist. Wenn wir demnach die Höhe des Wasserstan- des über der Mitte der Oeffnung = h und die Fallhöhe der schweren Körper in der ersten Sekunde = g setzen, so ist die Geschwindigkeit des ausfliessenden Wassers c = [FORMEL] und dieselbe erleidet selbst durch die Zusammenziehung, welche man an dem Wasser- strahl auf einer kurzen Entfernung von der Oeffnung beobachtet, keine Aenderung, wie ebenfalls im vorigen Kapitel gezeigt wurde. Da dieser Satz als eine allgemeine Folge der Schwerkraft und des Druckes, welchen die ausfliessenden Wassertheile von dem im Gefässe darüber stehenden ruhigen Wasser erfahren, anzusehen ist, und da die unveränderte Mittheilung dieser vereinten Kraft nur bei dem sehr geringen Zusammenhange der Theile und der vollkommenen Flüssigkeit des Wassers Statt findet, so glaubte man, dass das Wasser bei seiner Bewegung in Röhren auch am Ende desselben mit gleicher Geschwindigkeit c = [FORMEL] ausfliessen und dass demnach auch eine horizontale Röhrenleitung von grösserer oder kleinerer Länge einerlei Wassermenge geben müsse. Man war der Meinung, dass, wenn auch einige Wassertheile an den Röhrenwänden so wie bei der Reibung fester Körper einen Widerstand finden, und dadurch in ihrer Bewegung aufgehalten würden, doch die in- nern Wassertheile, welche nicht mehr an den Wänden, sondern an andern vollkommen flüssigen Wassertheilen fortfliessen, von ihrer durch den Druck des Wasserstandes im Behälter erlangten Geschwindigkeit c = [FORMEL] nichts verlieren könnten. Diesen Gründen stand jedoch die Erfahrung entgegen, und man befand sich in sehr grosser Verlegenheit, als man bei längern Wasserleitungen und vorzüglich bei jenen von Marly nach Versailles gesehen hatte, dass bei weitem nicht dieselbe Wassermenge

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Zitationshilfe: Gerstner, Franz Joseph von: Handbuch der Mechanik. Bd. 2: Mechanik flüssiger Körper. Prag, 1832, S. 175. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gerstner_mechanik02_1832/193>, abgerufen am 05.12.2024.