Gerstenberg, Heinrich Wilhelm: Ugolino. Hamburg u. a., 1768.fünfter Aufzug. Gaddo. (kriecht zu seinem Vater hin, dessen Zipfel er faßt) Nur Ein Brosämchen, mein Vater! nur Eins! oder ich sterbe zu deinen Füßen! Ugolino. (zitternd) O Gott! Gaddo. Ach, Anselmo! hilf mir meinen Vater erbitten! Der Tod sitzt auf meinen Lippen: warum soll ich Hungers sterben? Anselmo. (den andern Zipfel anfassend, und gleichfalls knieend) Um deiner Liebe willen! laß Gaddo nicht Hungers sterben! Gaddo. Schier verschmacht ich! bin doch nicht vaterlos, noch mutterlos! Gieb mir, daß dein Vater im Himmel dirs wiedergebe! Anselmo. Da dich selbst nicht hungert, o Versorger! gieb Gaddo von deinem Vorrathe! Laß den Wolf hungern. Der Wolf mag hungern. Laß den schändlichen Anselmo hungern. Der schändliche Anselmo mag hungern. Aber o du mit der fin- stern Stirne! warum dieses fromme, sanftmüthige, schweigende Lamm? Gaddo. Schon ein halber Bissen wird mir das Leben retten! ja die Hälfte eines halben Bissens wird mich retten! Anselmo. Als der Mangel ferne von uns war, strömten die Schätze des Gottes wie ein Sommerregen herab! herab auf den gierigen Adler! herab auf das idäische ambrosiaduftende Kind! Gaddo. (indem er kraftlos zurücksinkt) Hier will ich mein Leben ausschmachten! hier auf dieser Stelle! Den Trost soll man mir doch nicht nehmen, daß ich zu meines Vaters Füßen sterbe. (mit gebrochner Stimme) Gott segn ihn! Ugo- H 3
fuͤnfter Aufzug. Gaddo. (kriecht zu ſeinem Vater hin, deſſen Zipfel er faßt) Nur Ein Broſaͤmchen, mein Vater! nur Eins! oder ich ſterbe zu deinen Fuͤßen! Ugolino. (zitternd) O Gott! Gaddo. Ach, Anſelmo! hilf mir meinen Vater erbitten! Der Tod ſitzt auf meinen Lippen: warum ſoll ich Hungers ſterben? Anſelmo. (den andern Zipfel anfaſſend, und gleichfalls knieend) Um deiner Liebe willen! laß Gaddo nicht Hungers ſterben! Gaddo. Schier verſchmacht ich! bin doch nicht vaterlos, noch mutterlos! Gieb mir, daß dein Vater im Himmel dirs wiedergebe! Anſelmo. Da dich ſelbſt nicht hungert, o Verſorger! gieb Gaddo von deinem Vorrathe! Laß den Wolf hungern. Der Wolf mag hungern. Laß den ſchaͤndlichen Anſelmo hungern. Der ſchaͤndliche Anſelmo mag hungern. Aber o du mit der fin- ſtern Stirne! warum dieſes fromme, ſanftmuͤthige, ſchweigende Lamm? Gaddo. Schon ein halber Biſſen wird mir das Leben retten! ja die Haͤlfte eines halben Biſſens wird mich retten! Anſelmo. Als der Mangel ferne von uns war, ſtroͤmten die Schaͤtze des Gottes wie ein Sommerregen herab! herab auf den gierigen Adler! herab auf das idaͤiſche ambroſiaduftende Kind! Gaddo. (indem er kraftlos zuruͤckſinkt) Hier will ich mein Leben ausſchmachten! hier auf dieſer Stelle! Den Troſt ſoll man mir doch nicht nehmen, daß ich zu meines Vaters Fuͤßen ſterbe. (mit gebrochner Stimme) Gott ſegn ihn! Ugo- H 3
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Ein Broſaͤmchen, mein Vater! nur Eins! oder ich ſterbe zu
deinen Fuͤßen!
Ugolino. (zitternd) O Gott!
Gaddo. Ach, Anſelmo! hilf mir meinen Vater erbitten!
Der Tod ſitzt auf meinen Lippen: warum ſoll ich Hungers
ſterben?
Anſelmo. (den andern Zipfel anfaſſend, und gleichfalls knieend)
Um deiner Liebe willen! laß Gaddo nicht Hungers ſterben!
Gaddo. Schier verſchmacht ich! bin doch nicht vaterlos,
noch mutterlos! Gieb mir, daß dein Vater im Himmel dirs
wiedergebe!
Anſelmo. Da dich ſelbſt nicht hungert, o Verſorger!
gieb Gaddo von deinem Vorrathe! Laß den Wolf hungern. Der
Wolf mag hungern. Laß den ſchaͤndlichen Anſelmo hungern.
Der ſchaͤndliche Anſelmo mag hungern. Aber o du mit der fin-
ſtern Stirne! warum dieſes fromme, ſanftmuͤthige, ſchweigende
Lamm?
Gaddo. Schon ein halber Biſſen wird mir das Leben retten!
ja die Haͤlfte eines halben Biſſens wird mich retten!
Anſelmo. Als der Mangel ferne von uns war, ſtroͤmten
die Schaͤtze des Gottes wie ein Sommerregen herab! herab auf
den gierigen Adler! herab auf das idaͤiſche ambroſiaduftende
Kind!
Gaddo. (indem er kraftlos zuruͤckſinkt) Hier will ich mein
Leben ausſchmachten! hier auf dieſer Stelle! Den Troſt ſoll man
mir doch nicht nehmen, daß ich zu meines Vaters Fuͤßen ſterbe.
(mit gebrochner Stimme) Gott ſegn ihn!
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