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Gerstenberg, Heinrich Wilhelm: Ugolino. Hamburg u. a., 1768.

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Ugolino,
Stier an den Hörnern zu Boden gestürzt: allein dem erhabnen
Fremdling erlag Francesco. Jch bewundre den Bau seiner Glie-
der. Wenn dieser Jüngling in der Schlacht gefallen wäre: welch
ein Mahl für die Adler! Hier ist liebliche Speise! Hier ist Vor-
rath! Jupiter ist partheyisch. Den Raubvögeln giebt er im Ue-
berfluß; Menschen darben. Husch! warum nenn ich ihm par-
theyisch? Sorgt er nicht für mich, wie für die jungen Raben?
Ladet er mich nicht ein? Nein! hier widersteht etwas! Jn meinen
Herzen empört sichs, und ruft: Jß nicht Anselmo, iß nicht von
diesem Fleische. Ein guter Rath! Dieß Fleisch könnte mir scha-
den; es ist vergiftet. Hieher winkt der Versorger. Ein offner
Sarg, der einen weiblichen Körper voll himmlischer Schönheit
für mich aufbewahrt! Soll ich? Glück! soll ich? Jch folge dir,
Glück! Meine Zähne knirschen! Der Wolf ist in mir! Ha! ver-
wünscht will ich seyn, wenn ich dieser Weibsbrust schone! (Jndem
er sich über den Sarg erhebt, fällt der Deckel)
Ugolino. Tieger! in deiner Mutter Busen wolltest du deine
Zähne setzen? Du greinst? Du bist deiner Mutter Sohn nicht,
du Ungeheuer!
Anselmo. Woher dieser Starke? Der Tod kann er nicht
seyn: er ist hager und bärtig.
Ugolino. Wenn Ruggieri dieß sähe! dieß hörte!
Anselmo. Er droht mir!
Ugolino. Der Mensch ist Mensch; mehr nicht, Herrscher
im Himmel! deine Lasten sind zu schwer! Was hab ich nicht erlit-
ten! Könnt ich, wie das morgenländische Weib, eine Marmor-
säule da stehn, so wollt ich zurück schaun! O nun beb, Erde!
nun brüllt, Sturmwinde! nun wimmre, Natur! wimmre,
Gebährerinn! wimmre! wimmre! die Stunde deines Kreisens
ist eine große Stunde!

An-
Ugolino,
Stier an den Hoͤrnern zu Boden geſtuͤrzt: allein dem erhabnen
Fremdling erlag Franceſco. Jch bewundre den Bau ſeiner Glie-
der. Wenn dieſer Juͤngling in der Schlacht gefallen waͤre: welch
ein Mahl fuͤr die Adler! Hier iſt liebliche Speiſe! Hier iſt Vor-
rath! Jupiter iſt partheyiſch. Den Raubvoͤgeln giebt er im Ue-
berfluß; Menſchen darben. Huſch! warum nenn ich ihm par-
theyiſch? Sorgt er nicht fuͤr mich, wie fuͤr die jungen Raben?
Ladet er mich nicht ein? Nein! hier widerſteht etwas! Jn meinen
Herzen empoͤrt ſichs, und ruft: Jß nicht Anſelmo, iß nicht von
dieſem Fleiſche. Ein guter Rath! Dieß Fleiſch koͤnnte mir ſcha-
den; es iſt vergiftet. Hieher winkt der Verſorger. Ein offner
Sarg, der einen weiblichen Koͤrper voll himmliſcher Schoͤnheit
fuͤr mich aufbewahrt! Soll ich? Gluͤck! ſoll ich? Jch folge dir,
Gluͤck! Meine Zaͤhne knirſchen! Der Wolf iſt in mir! Ha! ver-
wuͤnſcht will ich ſeyn, wenn ich dieſer Weibsbruſt ſchone! (Jndem
er ſich uͤber den Sarg erhebt, faͤllt der Deckel)
Ugolino. Tieger! in deiner Mutter Buſen wollteſt du deine
Zaͤhne ſetzen? Du greinſt? Du biſt deiner Mutter Sohn nicht,
du Ungeheuer!
Anſelmo. Woher dieſer Starke? Der Tod kann er nicht
ſeyn: er iſt hager und baͤrtig.
Ugolino. Wenn Ruggieri dieß ſaͤhe! dieß hoͤrte!
Anſelmo. Er droht mir!
Ugolino. Der Menſch iſt Menſch; mehr nicht, Herrſcher
im Himmel! deine Laſten ſind zu ſchwer! Was hab ich nicht erlit-
ten! Koͤnnt ich, wie das morgenlaͤndiſche Weib, eine Marmor-
ſaͤule da ſtehn, ſo wollt ich zuruͤck ſchaun! O nun beb, Erde!
nun bruͤllt, Sturmwinde! nun wimmre, Natur! wimmre,
Gebaͤhrerinn! wimmre! wimmre! die Stunde deines Kreiſens
iſt eine große Stunde!

An-
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[58/0064] Ugolino, Stier an den Hoͤrnern zu Boden geſtuͤrzt: allein dem erhabnen Fremdling erlag Franceſco. Jch bewundre den Bau ſeiner Glie- der. Wenn dieſer Juͤngling in der Schlacht gefallen waͤre: welch ein Mahl fuͤr die Adler! Hier iſt liebliche Speiſe! Hier iſt Vor- rath! Jupiter iſt partheyiſch. Den Raubvoͤgeln giebt er im Ue- berfluß; Menſchen darben. Huſch! warum nenn ich ihm par- theyiſch? Sorgt er nicht fuͤr mich, wie fuͤr die jungen Raben? Ladet er mich nicht ein? Nein! hier widerſteht etwas! Jn meinen Herzen empoͤrt ſichs, und ruft: Jß nicht Anſelmo, iß nicht von dieſem Fleiſche. Ein guter Rath! Dieß Fleiſch koͤnnte mir ſcha- den; es iſt vergiftet. Hieher winkt der Verſorger. Ein offner Sarg, der einen weiblichen Koͤrper voll himmliſcher Schoͤnheit fuͤr mich aufbewahrt! Soll ich? Gluͤck! ſoll ich? Jch folge dir, Gluͤck! Meine Zaͤhne knirſchen! Der Wolf iſt in mir! Ha! ver- wuͤnſcht will ich ſeyn, wenn ich dieſer Weibsbruſt ſchone! (Jndem er ſich uͤber den Sarg erhebt, faͤllt der Deckel) Ugolino. Tieger! in deiner Mutter Buſen wollteſt du deine Zaͤhne ſetzen? Du greinſt? Du biſt deiner Mutter Sohn nicht, du Ungeheuer! Anſelmo. Woher dieſer Starke? Der Tod kann er nicht ſeyn: er iſt hager und baͤrtig. Ugolino. Wenn Ruggieri dieß ſaͤhe! dieß hoͤrte! Anſelmo. Er droht mir! Ugolino. Der Menſch iſt Menſch; mehr nicht, Herrſcher im Himmel! deine Laſten ſind zu ſchwer! Was hab ich nicht erlit- ten! Koͤnnt ich, wie das morgenlaͤndiſche Weib, eine Marmor- ſaͤule da ſtehn, ſo wollt ich zuruͤck ſchaun! O nun beb, Erde! nun bruͤllt, Sturmwinde! nun wimmre, Natur! wimmre, Gebaͤhrerinn! wimmre! wimmre! die Stunde deines Kreiſens iſt eine große Stunde! An-

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Zitationshilfe: Gerstenberg, Heinrich Wilhelm: Ugolino. Hamburg u. a., 1768, S. 58. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gerstenberg_ugolino_1768/64>, abgerufen am 19.04.2024.