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Gerstenberg, Heinrich Wilhelm: Ugolino. Hamburg u. a., 1768.

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fünfter Aufzug.
von starker Seele, Anselmo; ja du bist mehr, als ein Knabe!
Weine nicht, Liebster. Doch weine nur. Jch verstehe den gan-
zen Sinn dieser Zähre.
Anselmo. Wie schwach ich mir itzt vorkomme, du Gold-
züngiger!
Francesco. Ein Wort sagte unser Vater: es gellt noch in
meinen Ohren. Ach, Herr, bewahre mich vor Verzweif-
lung!
So sagte unser Vater! So sagte Gherardesca! Er nannte
sich den von Gott Verlassenen. Entsetzen fuhr durch meine
Seele: aber ich hielte mich, daß ich nicht ausschrie. Bete für
unsern Vater, Anselmo! (Jndem er ihm die Hand drückt) Jch wollte
dich auffordern -- Nun vergeß ich, wozu ich dich auffordern wollte.
Die Rede eines Sterbenden --
Anselmo. Sprich nicht eines Sterbenden, ehrwürdiger
Jüngling! Wie, Lichtheller, du wirst mich nicht in diesem engen
Thurme, von der Welt, und aller menschlichen Hülfe abgeson-
dert, mit Gaddo allein lassen? Ueberdem ist mein Kopf zerstöhrt.
Jch schaudre, zurück, ich schaudre, vorwärts zu schauen.
Francesco. Recht so, das wars, wozu ich dich auffodern
wollte. Laß Ruggieri nicht über die Seele Eines Gherardesca
triumphiren! Sey stärker, als deine Jahre. Tritt mit Anstand
in die Laufbahn. Wache über deine Vernunft! Ruggieri allein
sey der Tobende, aber auch der Zähnklappernde! Er, der itzt
jauchzt, sey der Winselnde, der Kriechende, das Jnsect! Stirb
du deines Namens würdig, Anselmo. Stirb, daß ich dich an
jenem Ufer umarmen könne, wie ich dich hier umarme. Gut!
das Zittern deines Antlitzes verspricht viel! Dein stolzes Herz
steigt sichtbar in deinen Minen empor! Du bist mein Bruder!
Anselmo. (Fällt ihm in die Arme) Ach!
Francesco. Meine Bitte hat ihre Deutung, Geliebter.
Auch deines Vaters wegen wünsch ich dich standhaft. Kränk ihn
nicht durch vergeblichen Kummer: er hat der Leiden genug. Laß
mich
fuͤnfter Aufzug.
von ſtarker Seele, Anſelmo; ja du biſt mehr, als ein Knabe!
Weine nicht, Liebſter. Doch weine nur. Jch verſtehe den gan-
zen Sinn dieſer Zaͤhre.
Anſelmo. Wie ſchwach ich mir itzt vorkomme, du Gold-
zuͤngiger!
Franceſco. Ein Wort ſagte unſer Vater: es gellt noch in
meinen Ohren. Ach, Herr, bewahre mich vor Verzweif-
lung!
So ſagte unſer Vater! So ſagte Gherardeſca! Er nannte
ſich den von Gott Verlaſſenen. Entſetzen fuhr durch meine
Seele: aber ich hielte mich, daß ich nicht ausſchrie. Bete fuͤr
unſern Vater, Anſelmo! (Jndem er ihm die Hand druͤckt) Jch wollte
dich auffordern — Nun vergeß ich, wozu ich dich auffordern wollte.
Die Rede eines Sterbenden —
Anſelmo. Sprich nicht eines Sterbenden, ehrwuͤrdiger
Juͤngling! Wie, Lichtheller, du wirſt mich nicht in dieſem engen
Thurme, von der Welt, und aller menſchlichen Huͤlfe abgeſon-
dert, mit Gaddo allein laſſen? Ueberdem iſt mein Kopf zerſtoͤhrt.
Jch ſchaudre, zuruͤck, ich ſchaudre, vorwaͤrts zu ſchauen.
Franceſco. Recht ſo, das wars, wozu ich dich auffodern
wollte. Laß Ruggieri nicht uͤber die Seele Eines Gherardeſca
triumphiren! Sey ſtaͤrker, als deine Jahre. Tritt mit Anſtand
in die Laufbahn. Wache uͤber deine Vernunft! Ruggieri allein
ſey der Tobende, aber auch der Zaͤhnklappernde! Er, der itzt
jauchzt, ſey der Winſelnde, der Kriechende, das Jnſect! Stirb
du deines Namens wuͤrdig, Anſelmo. Stirb, daß ich dich an
jenem Ufer umarmen koͤnne, wie ich dich hier umarme. Gut!
das Zittern deines Antlitzes verſpricht viel! Dein ſtolzes Herz
ſteigt ſichtbar in deinen Minen empor! Du biſt mein Bruder!
Anſelmo. (Faͤllt ihm in die Arme) Ach!
Franceſco. Meine Bitte hat ihre Deutung, Geliebter.
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[55/0061] fuͤnfter Aufzug. von ſtarker Seele, Anſelmo; ja du biſt mehr, als ein Knabe! Weine nicht, Liebſter. Doch weine nur. Jch verſtehe den gan- zen Sinn dieſer Zaͤhre. Anſelmo. Wie ſchwach ich mir itzt vorkomme, du Gold- zuͤngiger! Franceſco. Ein Wort ſagte unſer Vater: es gellt noch in meinen Ohren. Ach, Herr, bewahre mich vor Verzweif- lung! So ſagte unſer Vater! So ſagte Gherardeſca! Er nannte ſich den von Gott Verlaſſenen. Entſetzen fuhr durch meine Seele: aber ich hielte mich, daß ich nicht ausſchrie. Bete fuͤr unſern Vater, Anſelmo! (Jndem er ihm die Hand druͤckt) Jch wollte dich auffordern — Nun vergeß ich, wozu ich dich auffordern wollte. Die Rede eines Sterbenden — Anſelmo. Sprich nicht eines Sterbenden, ehrwuͤrdiger Juͤngling! Wie, Lichtheller, du wirſt mich nicht in dieſem engen Thurme, von der Welt, und aller menſchlichen Huͤlfe abgeſon- dert, mit Gaddo allein laſſen? Ueberdem iſt mein Kopf zerſtoͤhrt. Jch ſchaudre, zuruͤck, ich ſchaudre, vorwaͤrts zu ſchauen. Franceſco. Recht ſo, das wars, wozu ich dich auffodern wollte. Laß Ruggieri nicht uͤber die Seele Eines Gherardeſca triumphiren! Sey ſtaͤrker, als deine Jahre. Tritt mit Anſtand in die Laufbahn. Wache uͤber deine Vernunft! Ruggieri allein ſey der Tobende, aber auch der Zaͤhnklappernde! Er, der itzt jauchzt, ſey der Winſelnde, der Kriechende, das Jnſect! Stirb du deines Namens wuͤrdig, Anſelmo. Stirb, daß ich dich an jenem Ufer umarmen koͤnne, wie ich dich hier umarme. Gut! das Zittern deines Antlitzes verſpricht viel! Dein ſtolzes Herz ſteigt ſichtbar in deinen Minen empor! Du biſt mein Bruder! Anſelmo. (Faͤllt ihm in die Arme) Ach! Franceſco. Meine Bitte hat ihre Deutung, Geliebter. Auch deines Vaters wegen wuͤnſch ich dich ſtandhaft. Kraͤnk ihn nicht durch vergeblichen Kummer: er hat der Leiden genug. Laß mich

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Zitationshilfe: Gerstenberg, Heinrich Wilhelm: Ugolino. Hamburg u. a., 1768, S. 55. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gerstenberg_ugolino_1768/61>, abgerufen am 16.04.2024.