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Gerstenberg, Heinrich Wilhelm: Ugolino. Hamburg u. a., 1768.

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Ugolino,
schwindlicht und krank. Man riß mir die Kleider auf; man bot
mir einen Becher mit kühlem Getränke dar; ich trank; meine Gei-
ster waren verwirrt. Neue Ohnmachten überfielen mich, und
da ich endlich die Augen öffnete, herrschte stille Nacht um mich
her, ich fühlte mich schweben, in einem engen Raume, und ath-
mete schwerer: wo ich aber war, konnt ich nicht erkennen. Lange
vernahm ich nur ein undeutliches Geräusch in meinen Ohren: zu-
letzt eine Stimme. O diese Stimme! Noch zittre ich. Sie hatte
mich versteinert, daß ich den Gebrauch meiner Sinne verlohr,
bis ich, wie im Traume Gaddo reden hörte.
Ugolino. Was sagte diese Stimme?
Francesco. Verlange nicht, es zu erfahren.
Ugolino. Da ich das Aergste weiß?
Francesco. Wahr ists. "Jch erwarte euch hier unten,"
zischelte sie. "Jch will den Thurmschlüssel selbst in den Arno
"werfen. Was droben ist, gehört der Verwesung: kein leben-
"diger Mensch soll diese Stufen nach uns betreten. Es müssen
"noch Schlupfwinkel im Thurm seyn," sprach sie lauter; "ver-
"wahrt sie: denn der Thurm ist von dieser Stund an ver-
"flucht! ein Gebeinhaus!
--
Ugolino. Und verflucht die Stimme, die diese Unmensch-
lichkeit aussprach! O Pisa! Schandfleck der Erde! geschieht das
in deinen Mauren? Jch will der unerhörten Bosheit itzt nicht
weiter nachsinnen. Es könnte die Weisheit selbst wahnsinnig
machen. (geht gedanken voll) Sollen meine armen Kinder zu meinen
Füssen verhungern? Verhungern? Hast du jemals dieß gräuliche
Wort: Verhungern! recht überdacht, Francesco?
Francesco. Sprich es nicht aus, mein Vater!
Ugolino. Selbst Verhungern zu milde! Verhungern sehn!
Meine Kinder verhungern sehn! Und dann verhungern! Das ist
das große Gericht! Und bin ich! ich Gherardesca! ich der Sieger!
ich, der ich einen Fürsten zu ehren schien, wenn ich ihn meiner
Rechten
Ugolino,
ſchwindlicht und krank. Man riß mir die Kleider auf; man bot
mir einen Becher mit kuͤhlem Getraͤnke dar; ich trank; meine Gei-
ſter waren verwirrt. Neue Ohnmachten uͤberfielen mich, und
da ich endlich die Augen oͤffnete, herrſchte ſtille Nacht um mich
her, ich fuͤhlte mich ſchweben, in einem engen Raume, und ath-
mete ſchwerer: wo ich aber war, konnt ich nicht erkennen. Lange
vernahm ich nur ein undeutliches Geraͤuſch in meinen Ohren: zu-
letzt eine Stimme. O dieſe Stimme! Noch zittre ich. Sie hatte
mich verſteinert, daß ich den Gebrauch meiner Sinne verlohr,
bis ich, wie im Traume Gaddo reden hoͤrte.
Ugolino. Was ſagte dieſe Stimme?
Franceſco. Verlange nicht, es zu erfahren.
Ugolino. Da ich das Aergſte weiß?
Franceſco. Wahr iſts. „Jch erwarte euch hier unten,„
ziſchelte ſie. „Jch will den Thurmſchluͤſſel ſelbſt in den Arno
„werfen. Was droben iſt, gehoͤrt der Verweſung: kein leben-
„diger Menſch ſoll dieſe Stufen nach uns betreten. Es muͤſſen
„noch Schlupfwinkel im Thurm ſeyn,„ ſprach ſie lauter; „ver-
„wahrt ſie: denn der Thurm iſt von dieſer Stund an ver-
„flucht! ein Gebeinhaus!
Ugolino. Und verflucht die Stimme, die dieſe Unmenſch-
lichkeit ausſprach! O Piſa! Schandfleck der Erde! geſchieht das
in deinen Mauren? Jch will der unerhoͤrten Bosheit itzt nicht
weiter nachſinnen. Es koͤnnte die Weisheit ſelbſt wahnſinnig
machen. (geht gedanken voll) Sollen meine armen Kinder zu meinen
Fuͤſſen verhungern? Verhungern? Haſt du jemals dieß graͤuliche
Wort: Verhungern! recht uͤberdacht, Franceſco?
Franceſco. Sprich es nicht aus, mein Vater!
Ugolino. Selbſt Verhungern zu milde! Verhungern ſehn!
Meine Kinder verhungern ſehn! Und dann verhungern! Das iſt
das große Gericht! Und bin ich! ich Gherardeſca! ich der Sieger!
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[38/0044] Ugolino, ſchwindlicht und krank. Man riß mir die Kleider auf; man bot mir einen Becher mit kuͤhlem Getraͤnke dar; ich trank; meine Gei- ſter waren verwirrt. Neue Ohnmachten uͤberfielen mich, und da ich endlich die Augen oͤffnete, herrſchte ſtille Nacht um mich her, ich fuͤhlte mich ſchweben, in einem engen Raume, und ath- mete ſchwerer: wo ich aber war, konnt ich nicht erkennen. Lange vernahm ich nur ein undeutliches Geraͤuſch in meinen Ohren: zu- letzt eine Stimme. O dieſe Stimme! Noch zittre ich. Sie hatte mich verſteinert, daß ich den Gebrauch meiner Sinne verlohr, bis ich, wie im Traume Gaddo reden hoͤrte. Ugolino. Was ſagte dieſe Stimme? Franceſco. Verlange nicht, es zu erfahren. Ugolino. Da ich das Aergſte weiß? Franceſco. Wahr iſts. „Jch erwarte euch hier unten,„ ziſchelte ſie. „Jch will den Thurmſchluͤſſel ſelbſt in den Arno „werfen. Was droben iſt, gehoͤrt der Verweſung: kein leben- „diger Menſch ſoll dieſe Stufen nach uns betreten. Es muͤſſen „noch Schlupfwinkel im Thurm ſeyn,„ ſprach ſie lauter; „ver- „wahrt ſie: denn der Thurm iſt von dieſer Stund an ver- „flucht! ein Gebeinhaus! — Ugolino. Und verflucht die Stimme, die dieſe Unmenſch- lichkeit ausſprach! O Piſa! Schandfleck der Erde! geſchieht das in deinen Mauren? Jch will der unerhoͤrten Bosheit itzt nicht weiter nachſinnen. Es koͤnnte die Weisheit ſelbſt wahnſinnig machen. (geht gedanken voll) Sollen meine armen Kinder zu meinen Fuͤſſen verhungern? Verhungern? Haſt du jemals dieß graͤuliche Wort: Verhungern! recht uͤberdacht, Franceſco? Franceſco. Sprich es nicht aus, mein Vater! Ugolino. Selbſt Verhungern zu milde! Verhungern ſehn! Meine Kinder verhungern ſehn! Und dann verhungern! Das iſt das große Gericht! Und bin ich! ich Gherardeſca! ich der Sieger! ich, der ich einen Fuͤrſten zu ehren ſchien, wenn ich ihn meiner Rechten

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Zitationshilfe: Gerstenberg, Heinrich Wilhelm: Ugolino. Hamburg u. a., 1768, S. 38. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gerstenberg_ugolino_1768/44>, abgerufen am 28.03.2024.