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Gerland, Georg: Über das Aussterben der Naturvölker. Leipzig, 1868.

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Zeiten auch von den cultivirteren, wenigstens übersteigt die Masse der bei Festlichkeiten verschlungenen Lebensmittel alle europäischen Begriffe bei weitem. Ja es kam vor, dass man bei grossen Vorräthen, wie einst die hochcivilisirten Römer, Brechmittel nahm, um mit frischen Kräften weiter essen zu können (Waitz 3, 82, vom südl. Nordamerika). Zwiefach gefährlich ist eine solche Lebensart, einmal, weil sie dem menschlichen Organismus gewiss nicht entsprechend und also schädlich ist; und zweitens weil sie, da man alles was die Gegenwart bietet aufzehrt und in sich stopft, Vorräthe zu sammeln aber etwas ganz Ungewohntes ist, für die Zukunft, für welche Naturvölker nur in den seltensten Fällen und auch dann meist sehr unvollkommen sorgen, die bedenklichsten Folgen hat. Hungersnoth entsteht in Polynesien nicht selten durch gänzliches Aufzehren aller Lebensmittel bei Festlichkeiten, obwohl doch die meisten Völker hier Vorräthe sammeln. Uebrigens thun dies auch manche Indianerstämme (Waitz b, 91). Man sollte denken, gerade die Naturvölker, durch Noth und Erfahrung belehrt, müssten am ersten für die Zukunft Sorge zu tragen gelernt haben, allein Waitz, der daran erinnert, dass "auch unter den civilisirten Völkern die Individuen und die ganzen Classen der Gesellschaft sich um die Zukunft wenig oder gar nicht kümmern, denen zur Arbeit jedes andere Motiv fehlt, ausser der Sorge für ihren eigenen Lebensunterhalt", hat sehr richtig b, 84 u. 91 die psychologischen Gründe entwickelt, warum die kulturlosen Völker nur der Gegenwart leben. Die Hauptsache ist, dass sie allzusehr unter der Herrschaft der sinnlichen Nerveneindrücke stehen: die Vorstellung, welche sie gerade gegenwärtig haben, verdrängt alle anderen aus ihrem Bewusstsein, und ist, nach Noth und Entbehrung, die Gegenwart wieder gut, so kommt dazu der physische Genuss dieses Wohllebens, dieser Ruhe, der die augenblicklichen Vorstellungen mit um so grösserer Macht zu alleinherrschenden macht (Waitz 1, 351).

Aber nicht bloss sorglos sind sie um die Zukunft: wie oft zerstören sie sich man kann fast sagen die Lebensbedingungen für dieselbe selbst, so namentlich auf der Jagd. "Der Jäger, sagt Waitz 1, 350, geräth, besonders massenhafter Beute gegenüber, wie der Soldat im heissen Kampfe, in eine grenzenlose Wuth, er mordet mit Lust und verwüstet das Wild meist in völlig nutzloser Weise, verzehrt davon das Beste und oft dieses kaum, wenn es im Ueberfluss sich darbietet. Daher brauchen Jägervölker ein ganz unverhältnissmässig grosses Areal und gerathen trotzdem oft in Noth, weil ihnen Schonung der Jagdthiere ebenso fremd ist, als sparsames Haushalten mit Vorräthen überhaupt. Der hundertste Theil des von den Zulus erlegten Wildes, bemerkt Delagorgue, würde zu seinem und seiner Begleiter Unterhalt mehr als hinreichend gewesen sein." Die Buschmänner zerstören häufig grössere Jagdbeute aus Missgunst und Bosheit: "was sie selbst

Zeiten auch von den cultivirteren, wenigstens übersteigt die Masse der bei Festlichkeiten verschlungenen Lebensmittel alle europäischen Begriffe bei weitem. Ja es kam vor, dass man bei grossen Vorräthen, wie einst die hochcivilisirten Römer, Brechmittel nahm, um mit frischen Kräften weiter essen zu können (Waitz 3, 82, vom südl. Nordamerika). Zwiefach gefährlich ist eine solche Lebensart, einmal, weil sie dem menschlichen Organismus gewiss nicht entsprechend und also schädlich ist; und zweitens weil sie, da man alles was die Gegenwart bietet aufzehrt und in sich stopft, Vorräthe zu sammeln aber etwas ganz Ungewohntes ist, für die Zukunft, für welche Naturvölker nur in den seltensten Fällen und auch dann meist sehr unvollkommen sorgen, die bedenklichsten Folgen hat. Hungersnoth entsteht in Polynesien nicht selten durch gänzliches Aufzehren aller Lebensmittel bei Festlichkeiten, obwohl doch die meisten Völker hier Vorräthe sammeln. Uebrigens thun dies auch manche Indianerstämme (Waitz b, 91). Man sollte denken, gerade die Naturvölker, durch Noth und Erfahrung belehrt, müssten am ersten für die Zukunft Sorge zu tragen gelernt haben, allein Waitz, der daran erinnert, dass »auch unter den civilisirten Völkern die Individuen und die ganzen Classen der Gesellschaft sich um die Zukunft wenig oder gar nicht kümmern, denen zur Arbeit jedes andere Motiv fehlt, ausser der Sorge für ihren eigenen Lebensunterhalt«, hat sehr richtig b, 84 u. 91 die psychologischen Gründe entwickelt, warum die kulturlosen Völker nur der Gegenwart leben. Die Hauptsache ist, dass sie allzusehr unter der Herrschaft der sinnlichen Nerveneindrücke stehen: die Vorstellung, welche sie gerade gegenwärtig haben, verdrängt alle anderen aus ihrem Bewusstsein, und ist, nach Noth und Entbehrung, die Gegenwart wieder gut, so kommt dazu der physische Genuss dieses Wohllebens, dieser Ruhe, der die augenblicklichen Vorstellungen mit um so grösserer Macht zu alleinherrschenden macht (Waitz 1, 351).

Aber nicht bloss sorglos sind sie um die Zukunft: wie oft zerstören sie sich man kann fast sagen die Lebensbedingungen für dieselbe selbst, so namentlich auf der Jagd. »Der Jäger, sagt Waitz 1, 350, geräth, besonders massenhafter Beute gegenüber, wie der Soldat im heissen Kampfe, in eine grenzenlose Wuth, er mordet mit Lust und verwüstet das Wild meist in völlig nutzloser Weise, verzehrt davon das Beste und oft dieses kaum, wenn es im Ueberfluss sich darbietet. Daher brauchen Jägervölker ein ganz unverhältnissmässig grosses Areal und gerathen trotzdem oft in Noth, weil ihnen Schonung der Jagdthiere ebenso fremd ist, als sparsames Haushalten mit Vorräthen überhaupt. Der hundertste Theil des von den Zulus erlegten Wildes, bemerkt Delagorgue, würde zu seinem und seiner Begleiter Unterhalt mehr als hinreichend gewesen sein.« Die Buschmänner zerstören häufig grössere Jagdbeute aus Missgunst und Bosheit: »was sie selbst

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 grossen Vorräthen, wie einst die hochcivilisirten Römer,
 Brechmittel nahm, um mit frischen Kräften weiter essen zu
 können (Waitz 3, 82, vom südl. Nordamerika). Zwiefach
 gefährlich ist eine solche Lebensart, einmal, weil sie dem
 menschlichen Organismus gewiss nicht entsprechend und also
 schädlich ist; und zweitens weil sie, da man alles was die
 Gegenwart bietet aufzehrt und in sich stopft, Vorräthe zu
 sammeln aber etwas ganz Ungewohntes ist, für die Zukunft,
 für welche Naturvölker nur in den seltensten Fällen
 und auch dann meist sehr unvollkommen sorgen, die bedenklichsten
 Folgen hat. Hungersnoth entsteht in Polynesien nicht selten durch
 gänzliches Aufzehren aller Lebensmittel bei Festlichkeiten,
 obwohl doch die meisten Völker hier Vorräthe sammeln.
 Uebrigens thun dies auch manche Indianerstämme (Waitz b, 91).
 Man sollte denken, gerade die Naturvölker, durch Noth und
 Erfahrung belehrt, müssten am ersten für die Zukunft
 Sorge zu tragen gelernt haben, allein Waitz, der daran erinnert,
 dass »auch unter den civilisirten Völkern die Individuen
 und die ganzen Classen der Gesellschaft sich um die Zukunft wenig
 oder gar nicht kümmern, denen zur Arbeit jedes andere Motiv
 fehlt, ausser der Sorge für ihren eigenen
 Lebensunterhalt«, hat sehr richtig b, 84 u. 91 die
 psychologischen Gründe entwickelt, warum die kulturlosen
 Völker nur der Gegenwart leben. Die Hauptsache ist, dass sie
 allzusehr unter der Herrschaft der sinnlichen Nerveneindrücke
 stehen: die Vorstellung, welche sie gerade gegenwärtig haben,
 verdrängt alle anderen aus ihrem Bewusstsein, und ist, nach
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 Beute gegenüber, wie der Soldat im heissen Kampfe, in eine
 grenzenlose Wuth, er mordet mit Lust und verwüstet das Wild
 meist in völlig nutzloser Weise, verzehrt davon das Beste und
 oft dieses kaum, wenn es im Ueberfluss sich darbietet. Daher
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 unverhältnissmässig grosses Areal und gerathen trotzdem
 oft in Noth, weil ihnen Schonung der Jagdthiere ebenso fremd ist,
 als sparsames Haushalten mit Vorräthen überhaupt. Der
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[0045] Zeiten auch von den cultivirteren, wenigstens übersteigt die Masse der bei Festlichkeiten verschlungenen Lebensmittel alle europäischen Begriffe bei weitem. Ja es kam vor, dass man bei grossen Vorräthen, wie einst die hochcivilisirten Römer, Brechmittel nahm, um mit frischen Kräften weiter essen zu können (Waitz 3, 82, vom südl. Nordamerika). Zwiefach gefährlich ist eine solche Lebensart, einmal, weil sie dem menschlichen Organismus gewiss nicht entsprechend und also schädlich ist; und zweitens weil sie, da man alles was die Gegenwart bietet aufzehrt und in sich stopft, Vorräthe zu sammeln aber etwas ganz Ungewohntes ist, für die Zukunft, für welche Naturvölker nur in den seltensten Fällen und auch dann meist sehr unvollkommen sorgen, die bedenklichsten Folgen hat. Hungersnoth entsteht in Polynesien nicht selten durch gänzliches Aufzehren aller Lebensmittel bei Festlichkeiten, obwohl doch die meisten Völker hier Vorräthe sammeln. Uebrigens thun dies auch manche Indianerstämme (Waitz b, 91). Man sollte denken, gerade die Naturvölker, durch Noth und Erfahrung belehrt, müssten am ersten für die Zukunft Sorge zu tragen gelernt haben, allein Waitz, der daran erinnert, dass »auch unter den civilisirten Völkern die Individuen und die ganzen Classen der Gesellschaft sich um die Zukunft wenig oder gar nicht kümmern, denen zur Arbeit jedes andere Motiv fehlt, ausser der Sorge für ihren eigenen Lebensunterhalt«, hat sehr richtig b, 84 u. 91 die psychologischen Gründe entwickelt, warum die kulturlosen Völker nur der Gegenwart leben. Die Hauptsache ist, dass sie allzusehr unter der Herrschaft der sinnlichen Nerveneindrücke stehen: die Vorstellung, welche sie gerade gegenwärtig haben, verdrängt alle anderen aus ihrem Bewusstsein, und ist, nach Noth und Entbehrung, die Gegenwart wieder gut, so kommt dazu der physische Genuss dieses Wohllebens, dieser Ruhe, der die augenblicklichen Vorstellungen mit um so grösserer Macht zu alleinherrschenden macht (Waitz 1, 351). Aber nicht bloss sorglos sind sie um die Zukunft: wie oft zerstören sie sich man kann fast sagen die Lebensbedingungen für dieselbe selbst, so namentlich auf der Jagd. »Der Jäger, sagt Waitz 1, 350, geräth, besonders massenhafter Beute gegenüber, wie der Soldat im heissen Kampfe, in eine grenzenlose Wuth, er mordet mit Lust und verwüstet das Wild meist in völlig nutzloser Weise, verzehrt davon das Beste und oft dieses kaum, wenn es im Ueberfluss sich darbietet. Daher brauchen Jägervölker ein ganz unverhältnissmässig grosses Areal und gerathen trotzdem oft in Noth, weil ihnen Schonung der Jagdthiere ebenso fremd ist, als sparsames Haushalten mit Vorräthen überhaupt. Der hundertste Theil des von den Zulus erlegten Wildes, bemerkt Delagorgue, würde zu seinem und seiner Begleiter Unterhalt mehr als hinreichend gewesen sein.« Die Buschmänner zerstören häufig grössere Jagdbeute aus Missgunst und Bosheit: »was sie selbst

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Zitationshilfe: Gerland, Georg: Über das Aussterben der Naturvölker. Leipzig, 1868, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gerland_naturvoelker_1868/45>, abgerufen am 27.04.2024.