Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Gellert, Christian Fürchtegott]: Das Leben der Schwedischen Gräfinn von G**. Bd. 2. Leipzig, 1748.

Bild:
<< vorherige Seite

Gräfinn von G**
daß sie auf der ganzen Reise fast nicht nüch-
tern wurden. Sie haben mich indessen nie
mit Willen beleidiget, und ich würde ihre
Freundschaft erhalten haben, wenn ich mit ih-
nen getrunken hätte. Wir waren zu Ende
des Märzes in Moskau. Jch ward in eben
das Haus gebracht, in dem ich vor fünf Jah-
ren verwahrt gesessen hatte und fand den vo-
rigen Gefangenwärter noch. Jn drey Tagen
ward ich völlig losgelassen und bekam einen
Paß, und nun konnte ich mich hinwenden,
wo ich hin wollte. Jch hatte mein Wechsel
noch alle und begab mich nunmehr zu den En-
glischen Kaufleuten, welche Steeleyn vordem
beygestanden hatten, und übergab dem einen,
welcher Tompson hieß, ein Billet von ihm.
Er nahm mich sehr liebreich auf und sagte mir,
daß ihm Steeleys Unglück, nach Siberien ver-
wiesen zu werden, durch den Gefangenwärter
wäre hinterbracht worden, daß ers alsbald
nach London an seine Freunde gemeldet und
seit drey Jahren verschiedne Briefe an den En-
glischen Agenten in Moskau erhalten hätte.
Zu diesem giengen wir den andern Tag. Der
Agent war der liebreichste Mann von der Welt.
Er wies mir die beweglichen Briefe, die Stee-
leys Vater an ihn geschrieben hatte. Er wies
mir die Memoriale, durch die er bey dem Se-

na-
II Theil. E

Graͤfinn von G**
daß ſie auf der ganzen Reiſe faſt nicht nuͤch-
tern wurden. Sie haben mich indeſſen nie
mit Willen beleidiget, und ich wuͤrde ihre
Freundſchaft erhalten haben, wenn ich mit ih-
nen getrunken haͤtte. Wir waren zu Ende
des Maͤrzes in Moskau. Jch ward in eben
das Haus gebracht, in dem ich vor fuͤnf Jah-
ren verwahrt geſeſſen hatte und fand den vo-
rigen Gefangenwaͤrter noch. Jn drey Tagen
ward ich voͤllig losgelaſſen und bekam einen
Paß, und nun konnte ich mich hinwenden,
wo ich hin wollte. Jch hatte mein Wechſel
noch alle und begab mich nunmehr zu den En-
gliſchen Kaufleuten, welche Steeleyn vordem
beygeſtanden hatten, und uͤbergab dem einen,
welcher Tompſon hieß, ein Billet von ihm.
Er nahm mich ſehr liebreich auf und ſagte mir,
daß ihm Steeleys Ungluͤck, nach Siberien ver-
wieſen zu werden, durch den Gefangenwaͤrter
waͤre hinterbracht worden, daß ers alsbald
nach London an ſeine Freunde gemeldet und
ſeit drey Jahren verſchiedne Briefe an den En-
gliſchen Agenten in Moskau erhalten haͤtte.
Zu dieſem giengen wir den andern Tag. Der
Agent war der liebreichſte Mann von der Welt.
Er wies mir die beweglichen Briefe, die Stee-
leys Vater an ihn geſchrieben hatte. Er wies
mir die Memoriale, durch die er bey dem Se-

na-
II Theil. E
<TEI>
  <text>
    <body>
      <p><pb facs="#f0065" n="65"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Gra&#x0364;finn von G**</hi></fw><lb/>
daß &#x017F;ie auf der ganzen Rei&#x017F;e fa&#x017F;t nicht nu&#x0364;ch-<lb/>
tern wurden. Sie haben mich inde&#x017F;&#x017F;en nie<lb/>
mit Willen beleidiget, und ich wu&#x0364;rde ihre<lb/>
Freund&#x017F;chaft erhalten haben, wenn ich mit ih-<lb/>
nen getrunken ha&#x0364;tte. Wir waren zu Ende<lb/>
des Ma&#x0364;rzes in Moskau. Jch ward in eben<lb/>
das Haus gebracht, in dem ich vor fu&#x0364;nf Jah-<lb/>
ren verwahrt ge&#x017F;e&#x017F;&#x017F;en hatte und fand den vo-<lb/>
rigen Gefangenwa&#x0364;rter noch. Jn drey Tagen<lb/>
ward ich vo&#x0364;llig losgela&#x017F;&#x017F;en und bekam einen<lb/>
Paß, und nun konnte ich mich hinwenden,<lb/>
wo ich hin wollte. Jch hatte mein Wech&#x017F;el<lb/>
noch alle und begab mich nunmehr zu den En-<lb/>
gli&#x017F;chen Kaufleuten, welche Steeleyn vordem<lb/>
beyge&#x017F;tanden hatten, und u&#x0364;bergab dem einen,<lb/>
welcher Tomp&#x017F;on hieß, ein Billet von ihm.<lb/>
Er nahm mich &#x017F;ehr liebreich auf und &#x017F;agte mir,<lb/>
daß ihm Steeleys Unglu&#x0364;ck, nach Siberien ver-<lb/>
wie&#x017F;en zu werden, durch den Gefangenwa&#x0364;rter<lb/>
wa&#x0364;re hinterbracht worden, daß ers alsbald<lb/>
nach London an &#x017F;eine Freunde gemeldet und<lb/>
&#x017F;eit drey Jahren ver&#x017F;chiedne Briefe an den En-<lb/>
gli&#x017F;chen Agenten in Moskau erhalten ha&#x0364;tte.<lb/>
Zu die&#x017F;em giengen wir den andern Tag. Der<lb/>
Agent war der liebreich&#x017F;te Mann von der Welt.<lb/>
Er wies mir die beweglichen Briefe, die Stee-<lb/>
leys Vater an ihn ge&#x017F;chrieben hatte. Er wies<lb/>
mir die Memoriale, durch die er bey dem Se-<lb/>
<fw place="bottom" type="sig"><hi rendition="#aq">II</hi> Theil. E</fw><fw place="bottom" type="catch">na-</fw><lb/></p>
    </body>
  </text>
</TEI>
[65/0065] Graͤfinn von G** daß ſie auf der ganzen Reiſe faſt nicht nuͤch- tern wurden. Sie haben mich indeſſen nie mit Willen beleidiget, und ich wuͤrde ihre Freundſchaft erhalten haben, wenn ich mit ih- nen getrunken haͤtte. Wir waren zu Ende des Maͤrzes in Moskau. Jch ward in eben das Haus gebracht, in dem ich vor fuͤnf Jah- ren verwahrt geſeſſen hatte und fand den vo- rigen Gefangenwaͤrter noch. Jn drey Tagen ward ich voͤllig losgelaſſen und bekam einen Paß, und nun konnte ich mich hinwenden, wo ich hin wollte. Jch hatte mein Wechſel noch alle und begab mich nunmehr zu den En- gliſchen Kaufleuten, welche Steeleyn vordem beygeſtanden hatten, und uͤbergab dem einen, welcher Tompſon hieß, ein Billet von ihm. Er nahm mich ſehr liebreich auf und ſagte mir, daß ihm Steeleys Ungluͤck, nach Siberien ver- wieſen zu werden, durch den Gefangenwaͤrter waͤre hinterbracht worden, daß ers alsbald nach London an ſeine Freunde gemeldet und ſeit drey Jahren verſchiedne Briefe an den En- gliſchen Agenten in Moskau erhalten haͤtte. Zu dieſem giengen wir den andern Tag. Der Agent war der liebreichſte Mann von der Welt. Er wies mir die beweglichen Briefe, die Stee- leys Vater an ihn geſchrieben hatte. Er wies mir die Memoriale, durch die er bey dem Se- na- II Theil. E

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/gellert_leben02_1748
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/gellert_leben02_1748/65
Zitationshilfe: [Gellert, Christian Fürchtegott]: Das Leben der Schwedischen Gräfinn von G**. Bd. 2. Leipzig, 1748, S. 65. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gellert_leben02_1748/65>, abgerufen am 27.04.2024.