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[Gellert, Christian Fürchtegott]: Das Leben der Schwedischen Gräfinn von G**. Bd. 2. Leipzig, 1748.

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Leben der Schwedischen
Schach, ein Spiel, das für Verliebte eher eine
Strafe, als ein Vergnügen ist, und das uns sehr
beschwerlich gewesen seyn würde, wenn es uns
nicht das Recht ertheilt hätte, einander genauer,
als ausserdem, zu beobachten. Jch ließ meine
Hand mit Fleiß immer lange auf dem Steine
liegen, als wenn ich noch ungewiß wäre, ob ich
ihn fortrücken wollte, und ich ließ sie doch nur
für seine Augen da. Unsere Spiele wurden
alle bald aus. Jch verstund es wirklich besser,
als er; allein ein Blick in seine redlichen und
zärtlichen Augen, und eine kleine Röthe, oder ein
verschämter Seufzer, den ich ihm abnöthigte,
war genug, mich zu dem einfältigsten Zuge zu be-
wegen. Wir wiederholten diesen Zeitvertreib
ganze Stunden, ohne zehn Worte zu reden,
und wir befanden uns so gut dabey, daß wir
recht von der Tafel eilten, um zum Schache zu
kommen. Unser Umgang hatte nunmehr unge-
fehr vier Wochen gedauert, und binnen dieser
Zeit hatten wir einander nicht länger, als fünf
Tage, nicht gesehen, und dennoch waren wir, so
sehr wir einander gefielen, nicht vertrauter, als im
Anfange; und wir würden unstreitig diesen Cha-
rakter noch länger behauptet haben, wenn unsere
Herzen nicht durch einen Zufall übereilet worden
wären. Der Jude besuchte uns nämlich un-
vermuthet bey Tische und kündigte Steeleyn an,
daß morgen eine Lieferung für den Hof nach
Moskau abgehen würde, und daß er für so und
so viel Geld sicher und ziemlich bequem mit fort-
kommen könnte. Jch erschrack über diese Nach-

richt

Leben der Schwediſchen
Schach, ein Spiel, das fuͤr Verliebte eher eine
Strafe, als ein Vergnuͤgen iſt, und das uns ſehr
beſchwerlich geweſen ſeyn wuͤrde, wenn es uns
nicht das Recht ertheilt haͤtte, einander genauer,
als auſſerdem, zu beobachten. Jch ließ meine
Hand mit Fleiß immer lange auf dem Steine
liegen, als wenn ich noch ungewiß waͤre, ob ich
ihn fortruͤcken wollte, und ich ließ ſie doch nur
fuͤr ſeine Augen da. Unſere Spiele wurden
alle bald aus. Jch verſtund es wirklich beſſer,
als er; allein ein Blick in ſeine redlichen und
zaͤrtlichen Augen, und eine kleine Roͤthe, oder ein
verſchaͤmter Seufzer, den ich ihm abnoͤthigte,
war genug, mich zu dem einfaͤltigſten Zuge zu be-
wegen. Wir wiederholten dieſen Zeitvertreib
ganze Stunden, ohne zehn Worte zu reden,
und wir befanden uns ſo gut dabey, daß wir
recht von der Tafel eilten, um zum Schache zu
kommen. Unſer Umgang hatte nunmehr unge-
fehr vier Wochen gedauert, und binnen dieſer
Zeit hatten wir einander nicht laͤnger, als fuͤnf
Tage, nicht geſehen, und dennoch waren wir, ſo
ſehr wir einander gefielen, nicht vertrauter, als im
Anfange; und wir wuͤrden unſtreitig dieſen Cha-
rakter noch laͤnger behauptet haben, wenn unſere
Herzen nicht durch einen Zufall uͤbereilet worden
waͤren. Der Jude beſuchte uns naͤmlich un-
vermuthet bey Tiſche und kuͤndigte Steeleyn an,
daß morgen eine Lieferung fuͤr den Hof nach
Moskau abgehen wuͤrde, und daß er fuͤr ſo und
ſo viel Geld ſicher und ziemlich bequem mit fort-
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[108/0108] Leben der Schwediſchen Schach, ein Spiel, das fuͤr Verliebte eher eine Strafe, als ein Vergnuͤgen iſt, und das uns ſehr beſchwerlich geweſen ſeyn wuͤrde, wenn es uns nicht das Recht ertheilt haͤtte, einander genauer, als auſſerdem, zu beobachten. Jch ließ meine Hand mit Fleiß immer lange auf dem Steine liegen, als wenn ich noch ungewiß waͤre, ob ich ihn fortruͤcken wollte, und ich ließ ſie doch nur fuͤr ſeine Augen da. Unſere Spiele wurden alle bald aus. Jch verſtund es wirklich beſſer, als er; allein ein Blick in ſeine redlichen und zaͤrtlichen Augen, und eine kleine Roͤthe, oder ein verſchaͤmter Seufzer, den ich ihm abnoͤthigte, war genug, mich zu dem einfaͤltigſten Zuge zu be- wegen. Wir wiederholten dieſen Zeitvertreib ganze Stunden, ohne zehn Worte zu reden, und wir befanden uns ſo gut dabey, daß wir recht von der Tafel eilten, um zum Schache zu kommen. Unſer Umgang hatte nunmehr unge- fehr vier Wochen gedauert, und binnen dieſer Zeit hatten wir einander nicht laͤnger, als fuͤnf Tage, nicht geſehen, und dennoch waren wir, ſo ſehr wir einander gefielen, nicht vertrauter, als im Anfange; und wir wuͤrden unſtreitig dieſen Cha- rakter noch laͤnger behauptet haben, wenn unſere Herzen nicht durch einen Zufall uͤbereilet worden waͤren. Der Jude beſuchte uns naͤmlich un- vermuthet bey Tiſche und kuͤndigte Steeleyn an, daß morgen eine Lieferung fuͤr den Hof nach Moskau abgehen wuͤrde, und daß er fuͤr ſo und ſo viel Geld ſicher und ziemlich bequem mit fort- kommen koͤnnte. Jch erſchrack uͤber dieſe Nach- richt

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Zitationshilfe: [Gellert, Christian Fürchtegott]: Das Leben der Schwedischen Gräfinn von G**. Bd. 2. Leipzig, 1748, S. 108. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gellert_leben02_1748/108>, abgerufen am 06.05.2024.