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[Gellert, Christian Fürchtegott]: Das Leben der Schwedischen Gräfinn von G**. Bd. 2. Leipzig, 1748.

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Gräfinn von G**

Mein Glück scheint mir nur ein Traum zu
seyn; und Sie überhäufen mich mit so vieler Gna-
de, daß ich gar nicht weis, wie ich dankbar ge-
nug seyn soll. Jch erzähle es dem Grafen und
allen meinen Freunden, und allen meinen Lands-
leuten, schon in Gedancken, daß ich das großmü-
thigste Herz in Siberien angetroffen habe. Ach,
Madam, wodurch verdiene ich ihre Sorgfalt?
und wodurch kann ich sie in dem Reste meines
unglücklichen Lebens verdienen? durch nichts, als
durch Ehrerbietung - - -

Dieser kurze Brief gefiel mir sehr wohl. Jch
brachte einen grossen Theil der Nacht mit einer
geheimen Auslegung dieses Briefs zu. "Wo-
"durch soll ich ihre Sorgfalt in dem Reste mei-
"nes unglücklichen Lebens verdienen? durch
"Ehrerbietung". Jch gab diesem Worte eine
Bedeutung, wie sie mein Herz verlangte. Jch
freute mich, da ich erwachte, daß der Tag schon
da war. Jch eilte, und beschloß, Steeleyn des
Mittags mit mir speisen zu lassen. Jch konnte
den Bedienten nicht finden. Jch vermuthete,
daß er bey seinem neuen Herrn seyn würde, und
ich hatte Recht. Jn kurzem kam er. Jch warf
ihm vor, daß er mich bald über seinen neuen
Herrn vergessen würde, und schickte ihn mit zwey
französischen Büchern wieder an Steeleyn, und
ließ ihn bitten, zu Mittage mit mir zu speisen.
Jch ließ etliche wenige Gerichte nach deutscher
Art zurichten, und ihn zu Mittage in einem
Schlitten abholen. Jch hatte mich nicht vor-
nehm gekleidet, um ihm desto ähnlicher zu seyn;

doch
G 3
Graͤfinn von G**

Mein Gluͤck ſcheint mir nur ein Traum zu
ſeyn; und Sie uͤberhaͤufen mich mit ſo vieler Gna-
de, daß ich gar nicht weis, wie ich dankbar ge-
nug ſeyn ſoll. Jch erzaͤhle es dem Grafen und
allen meinen Freunden, und allen meinen Lands-
leuten, ſchon in Gedancken, daß ich das großmuͤ-
thigſte Herz in Siberien angetroffen habe. Ach,
Madam, wodurch verdiene ich ihre Sorgfalt?
und wodurch kann ich ſie in dem Reſte meines
ungluͤcklichen Lebens verdienen? durch nichts, als
durch Ehrerbietung ‒ ‒ ‒

Dieſer kurze Brief gefiel mir ſehr wohl. Jch
brachte einen groſſen Theil der Nacht mit einer
geheimen Auslegung dieſes Briefs zu. „Wo-
„durch ſoll ich ihre Sorgfalt in dem Reſte mei-
„nes ungluͤcklichen Lebens verdienen? durch
„Ehrerbietung„. Jch gab dieſem Worte eine
Bedeutung, wie ſie mein Herz verlangte. Jch
freute mich, da ich erwachte, daß der Tag ſchon
da war. Jch eilte, und beſchloß, Steeleyn des
Mittags mit mir ſpeiſen zu laſſen. Jch konnte
den Bedienten nicht finden. Jch vermuthete,
daß er bey ſeinem neuen Herrn ſeyn wuͤrde, und
ich hatte Recht. Jn kurzem kam er. Jch warf
ihm vor, daß er mich bald uͤber ſeinen neuen
Herrn vergeſſen wuͤrde, und ſchickte ihn mit zwey
franzoͤſiſchen Buͤchern wieder an Steeleyn, und
ließ ihn bitten, zu Mittage mit mir zu ſpeiſen.
Jch ließ etliche wenige Gerichte nach deutſcher
Art zurichten, und ihn zu Mittage in einem
Schlitten abholen. Jch hatte mich nicht vor-
nehm gekleidet, um ihm deſto aͤhnlicher zu ſeyn;

doch
G 3
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[101/0101] Graͤfinn von G** Mein Gluͤck ſcheint mir nur ein Traum zu ſeyn; und Sie uͤberhaͤufen mich mit ſo vieler Gna- de, daß ich gar nicht weis, wie ich dankbar ge- nug ſeyn ſoll. Jch erzaͤhle es dem Grafen und allen meinen Freunden, und allen meinen Lands- leuten, ſchon in Gedancken, daß ich das großmuͤ- thigſte Herz in Siberien angetroffen habe. Ach, Madam, wodurch verdiene ich ihre Sorgfalt? und wodurch kann ich ſie in dem Reſte meines ungluͤcklichen Lebens verdienen? durch nichts, als durch Ehrerbietung ‒ ‒ ‒ Dieſer kurze Brief gefiel mir ſehr wohl. Jch brachte einen groſſen Theil der Nacht mit einer geheimen Auslegung dieſes Briefs zu. „Wo- „durch ſoll ich ihre Sorgfalt in dem Reſte mei- „nes ungluͤcklichen Lebens verdienen? durch „Ehrerbietung„. Jch gab dieſem Worte eine Bedeutung, wie ſie mein Herz verlangte. Jch freute mich, da ich erwachte, daß der Tag ſchon da war. Jch eilte, und beſchloß, Steeleyn des Mittags mit mir ſpeiſen zu laſſen. Jch konnte den Bedienten nicht finden. Jch vermuthete, daß er bey ſeinem neuen Herrn ſeyn wuͤrde, und ich hatte Recht. Jn kurzem kam er. Jch warf ihm vor, daß er mich bald uͤber ſeinen neuen Herrn vergeſſen wuͤrde, und ſchickte ihn mit zwey franzoͤſiſchen Buͤchern wieder an Steeleyn, und ließ ihn bitten, zu Mittage mit mir zu ſpeiſen. Jch ließ etliche wenige Gerichte nach deutſcher Art zurichten, und ihn zu Mittage in einem Schlitten abholen. Jch hatte mich nicht vor- nehm gekleidet, um ihm deſto aͤhnlicher zu ſeyn; doch G 3

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Zitationshilfe: [Gellert, Christian Fürchtegott]: Das Leben der Schwedischen Gräfinn von G**. Bd. 2. Leipzig, 1748, S. 101. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gellert_leben02_1748/101>, abgerufen am 21.11.2024.