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[Gellert, Christian Fürchtegott]: Das Leben der Schwedischen Gräfinn von G.***. Bd. 1. Leipzig, 1747.

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Gräfinn von G **
verstund Französisch, und etwas Latein
und Jtaliänisch. Der Büchersal ward
mir in kurzer Zeit an der Seite meines
Gemahls der angenehmste Ort. Er las
mir aus vielen Büchern, die theils histo-
risch, theils witzig, theils moralisch waren,
die schönsten Stellen vor, und brachte
mir seinen guten Geschmack unvermerkt
bey. Und ob ichs gleich nicht allemal sa-
gen konnte, warum eine Sache schön,
oder nicht schön war: so war doch meine
Empfindung so getreu, daß sie mich sel-
ten betrog. Unsere Ehe selbst war nichts,
als Liebe, und unser Leben nichts, als
Vergnügen. Wir hatten fast niemanden
zu unserm Umgange, als uns. Mein
Gemahl unterhielt mich, ich ihn, und
unser alter Vater uns alle beyde. Dieser
Mann von siebenzig Jahren vertrat die
Stelle von sechs Personen. Seine Er-
fahrung in der Welt, seine brauchbare
Gelehrsamkeit und sein zufriednes und red-
liches Herz machten ihn stets munter und

belebt
C 2

Gräfinn von G **
verſtund Franzöſiſch, und etwas Latein
und Jtaliäniſch. Der Bücherſal ward
mir in kurzer Zeit an der Seite meines
Gemahls der angenehmſte Ort. Er las
mir aus vielen Büchern, die theils hiſto-
riſch, theils witzig, theils moraliſch waren,
die ſchönſten Stellen vor, und brachte
mir ſeinen guten Geſchmack unvermerkt
bey. Und ob ichs gleich nicht allemal ſa-
gen konnte, warum eine Sache ſchön,
oder nicht ſchön war: ſo war doch meine
Empfindung ſo getreu, daß ſie mich ſel-
ten betrog. Unſere Ehe ſelbſt war nichts,
als Liebe, und unſer Leben nichts, als
Vergnügen. Wir hatten faſt niemanden
zu unſerm Umgange, als uns. Mein
Gemahl unterhielt mich, ich ihn, und
unſer alter Vater uns alle beyde. Dieſer
Mann von ſiebenzig Jahren vertrat die
Stelle von ſechs Perſonen. Seine Er-
fahrung in der Welt, ſeine brauchbare
Gelehrſamkeit und ſein zufriednes und red-
liches Herz machten ihn ſtets munter und

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[35/0035] Gräfinn von G ** verſtund Franzöſiſch, und etwas Latein und Jtaliäniſch. Der Bücherſal ward mir in kurzer Zeit an der Seite meines Gemahls der angenehmſte Ort. Er las mir aus vielen Büchern, die theils hiſto- riſch, theils witzig, theils moraliſch waren, die ſchönſten Stellen vor, und brachte mir ſeinen guten Geſchmack unvermerkt bey. Und ob ichs gleich nicht allemal ſa- gen konnte, warum eine Sache ſchön, oder nicht ſchön war: ſo war doch meine Empfindung ſo getreu, daß ſie mich ſel- ten betrog. Unſere Ehe ſelbſt war nichts, als Liebe, und unſer Leben nichts, als Vergnügen. Wir hatten faſt niemanden zu unſerm Umgange, als uns. Mein Gemahl unterhielt mich, ich ihn, und unſer alter Vater uns alle beyde. Dieſer Mann von ſiebenzig Jahren vertrat die Stelle von ſechs Perſonen. Seine Er- fahrung in der Welt, ſeine brauchbare Gelehrſamkeit und ſein zufriednes und red- liches Herz machten ihn ſtets munter und belebt C 2

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Zitationshilfe: [Gellert, Christian Fürchtegott]: Das Leben der Schwedischen Gräfinn von G.***. Bd. 1. Leipzig, 1747, S. 35. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gellert_leben01_1747/35>, abgerufen am 24.11.2024.