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Gehler, Johann Samuel Traugott: Physikalisches Wörterbuch, oder, Versuch einer Erklärung der vornehmsten Begriffe und Kunstwörter der Naturlehre. Bd. 5. Leipzig, 1799.

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Jahres erreicht sie gewöhnlich ihre größte westliche Abweichung, und oscillirt in den Grenzen eines Bogens von 5 bis 6 Minuten.

Das Gesetz, welches hierinn liegt, scheint dieses zu seyn, daß überhaupt der Gang der Nadel zwischen der Frühlingsnachtgleiche und dem folgenden Sommersolstitium rückgängig oder östlich, und zwischen dem Sommersolstitium und der darauf folgenden Frühlingsnachtgleiche fortschreitend oder östlich ist. Da nun der Bogen des Fortschreitens, den sie binnen neun Monaten beschreibt, weit größer ist, als der Bogen des Rückgangs binnen drey Monaten, so erhellet daraus, daß der Winkel der Abweichung jährlich zunehmen muß.

Diese allgemeine Beschaffenheit des Ganzen leidet weiter keine Ausnahmen, als die durch außerordentliche Störungen und durch die täglichen Oscillationen verursachet werden. Diese letztern scheinen eine gleichzeitige Anziehung zweyer entgegengesetzten und ungleichen Kräfte anzuzeigen, wovon die stärkere gegen Westen zieht, und das seit länger als einem Jahrhunderte beobachtete Vorrücken verursachet.

Sehr merkwürdig scheint Hrn. Cassini der Umstand, daß das Wintersolstitium und Herbstäquinoctium für die Magnetnadel indifferent sind, und ihren Gang nach Westen nicht unterbrechen, da hingegen das Frühlingsäquinoctium sie davon abzieht und rückgängig macht, das Sommersolstitium aber sie in den ersten Zustand wieder zurückbringt.

Canton's Erklärung der Variationen aus der durch die Wärme geschwächten magnetischen Anziehung (s. Wörterb. S. 31.) ist für die täglichen Variationen hinreichend, und macht auch das Zunehmen der Oscillationen im Sommer begreiflich; allein den Rückgang der Nadel im Frühlinge kan man aus dieser Ursache nicht so leicht herleiten. Man müßte dabey annehmen, daß im Frühlinge die westlichen Theile schneller von der Sonne erwärmt würden, als die östlichen. Für Paris könnte man dieses gelten lassen, weil diesem westwärts der atlantische Ocean nahe liegt, dessen Gewässer vielleicht von den Stralen der Sonne schneller zu der wärmern Temperatur des Frühlings gebracht werden können, als die


Jahres erreicht ſie gewoͤhnlich ihre groͤßte weſtliche Abweichung, und oſcillirt in den Grenzen eines Bogens von 5 bis 6 Minuten.

Das Geſetz, welches hierinn liegt, ſcheint dieſes zu ſeyn, daß uͤberhaupt der Gang der Nadel zwiſchen der Fruͤhlingsnachtgleiche und dem folgenden Sommerſolſtitium ruͤckgaͤngig oder oͤſtlich, und zwiſchen dem Sommerſolſtitium und der darauf folgenden Fruͤhlingsnachtgleiche fortſchreitend oder oͤſtlich iſt. Da nun der Bogen des Fortſchreitens, den ſie binnen neun Monaten beſchreibt, weit groͤßer iſt, als der Bogen des Ruͤckgangs binnen drey Monaten, ſo erhellet daraus, daß der Winkel der Abweichung jaͤhrlich zunehmen muß.

Dieſe allgemeine Beſchaffenheit des Ganzen leidet weiter keine Ausnahmen, als die durch außerordentliche Stoͤrungen und durch die taͤglichen Oſcillationen verurſachet werden. Dieſe letztern ſcheinen eine gleichzeitige Anziehung zweyer entgegengeſetzten und ungleichen Kraͤfte anzuzeigen, wovon die ſtaͤrkere gegen Weſten zieht, und das ſeit laͤnger als einem Jahrhunderte beobachtete Vorruͤcken verurſachet.

Sehr merkwuͤrdig ſcheint Hrn. Caſſini der Umſtand, daß das Winterſolſtitium und Herbſtaͤquinoctium fuͤr die Magnetnadel indifferent ſind, und ihren Gang nach Weſten nicht unterbrechen, da hingegen das Fruͤhlingsaͤquinoctium ſie davon abzieht und ruͤckgaͤngig macht, das Sommerſolſtitium aber ſie in den erſten Zuſtand wieder zuruͤckbringt.

Canton's Erklaͤrung der Variationen aus der durch die Waͤrme geſchwaͤchten magnetiſchen Anziehung (ſ. Woͤrterb. S. 31.) iſt fuͤr die taͤglichen Variationen hinreichend, und macht auch das Zunehmen der Oſcillationen im Sommer begreiflich; allein den Ruͤckgang der Nadel im Fruͤhlinge kan man aus dieſer Urſache nicht ſo leicht herleiten. Man muͤßte dabey annehmen, daß im Fruͤhlinge die weſtlichen Theile ſchneller von der Sonne erwaͤrmt wuͤrden, als die oͤſtlichen. Fuͤr Paris koͤnnte man dieſes gelten laſſen, weil dieſem weſtwaͤrts der atlantiſche Ocean nahe liegt, deſſen Gewaͤſſer vielleicht von den Stralen der Sonne ſchneller zu der waͤrmern Temperatur des Fruͤhlings gebracht werden koͤnnen, als die

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[8/0020] Jahres erreicht ſie gewoͤhnlich ihre groͤßte weſtliche Abweichung, und oſcillirt in den Grenzen eines Bogens von 5 bis 6 Minuten. Das Geſetz, welches hierinn liegt, ſcheint dieſes zu ſeyn, daß uͤberhaupt der Gang der Nadel zwiſchen der Fruͤhlingsnachtgleiche und dem folgenden Sommerſolſtitium ruͤckgaͤngig oder oͤſtlich, und zwiſchen dem Sommerſolſtitium und der darauf folgenden Fruͤhlingsnachtgleiche fortſchreitend oder oͤſtlich iſt. Da nun der Bogen des Fortſchreitens, den ſie binnen neun Monaten beſchreibt, weit groͤßer iſt, als der Bogen des Ruͤckgangs binnen drey Monaten, ſo erhellet daraus, daß der Winkel der Abweichung jaͤhrlich zunehmen muß. Dieſe allgemeine Beſchaffenheit des Ganzen leidet weiter keine Ausnahmen, als die durch außerordentliche Stoͤrungen und durch die taͤglichen Oſcillationen verurſachet werden. Dieſe letztern ſcheinen eine gleichzeitige Anziehung zweyer entgegengeſetzten und ungleichen Kraͤfte anzuzeigen, wovon die ſtaͤrkere gegen Weſten zieht, und das ſeit laͤnger als einem Jahrhunderte beobachtete Vorruͤcken verurſachet. Sehr merkwuͤrdig ſcheint Hrn. Caſſini der Umſtand, daß das Winterſolſtitium und Herbſtaͤquinoctium fuͤr die Magnetnadel indifferent ſind, und ihren Gang nach Weſten nicht unterbrechen, da hingegen das Fruͤhlingsaͤquinoctium ſie davon abzieht und ruͤckgaͤngig macht, das Sommerſolſtitium aber ſie in den erſten Zuſtand wieder zuruͤckbringt. Canton's Erklaͤrung der Variationen aus der durch die Waͤrme geſchwaͤchten magnetiſchen Anziehung (ſ. Woͤrterb. S. 31.) iſt fuͤr die taͤglichen Variationen hinreichend, und macht auch das Zunehmen der Oſcillationen im Sommer begreiflich; allein den Ruͤckgang der Nadel im Fruͤhlinge kan man aus dieſer Urſache nicht ſo leicht herleiten. Man muͤßte dabey annehmen, daß im Fruͤhlinge die weſtlichen Theile ſchneller von der Sonne erwaͤrmt wuͤrden, als die oͤſtlichen. Fuͤr Paris koͤnnte man dieſes gelten laſſen, weil dieſem weſtwaͤrts der atlantiſche Ocean nahe liegt, deſſen Gewaͤſſer vielleicht von den Stralen der Sonne ſchneller zu der waͤrmern Temperatur des Fruͤhlings gebracht werden koͤnnen, als die

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Zitationshilfe: Gehler, Johann Samuel Traugott: Physikalisches Wörterbuch, oder, Versuch einer Erklärung der vornehmsten Begriffe und Kunstwörter der Naturlehre. Bd. 5. Leipzig, 1799, S. 8. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gehler_woerterbuch05_1799/20>, abgerufen am 28.03.2024.