Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Gehler, Johann Samuel Traugott: Physikalisches Wörterbuch, oder, Versuch einer Erklärung der vornehmsten Begriffe und Kunstwörter der Naturlehre. Bd. 4. Leipzig, 1798.

Bild:
<< vorherige Seite


Erde, die sich mit dem Luftkreise zugleich dreht, gänzlich hinweg. Nur das Fortrücken der Gestirne allein kan uns von dieser Umdrehung belehren, so wie man die Bewegung eines ohne Schüttern und Schwanken fortgehenden Schiffs blos durch das Entgegenkommen der Ufer und Küsten bemerkt.

Da Einige behauptet hatten, die Körper bewegten sich auf schnell segelnden Schiffen anders, als sonst, welches auch Tycho in den Briefen an Rothmann versichert, so fand Gassendi nöthig, im Hafen von Marseille Versuche hierüber anzustellen, die völlig für den Copernikus ausfielen, und in seiner Schrift De motu impresso a motore translato beschrieben sind.

Tychons übrige Einwendungen sind zum Theil sehr schwach. Daß man sich nicht vorstellen könne, aller zwölf Stunden den Kopf unterwärts zu kehren, daß die Erde eine grobe, plumpe, zu einer dreyfachen Bewegung ungeschickte Masse sey, daß die Schwungkraft alles zerstreuen würde -- sind Gedanken, die sich durch richtige Begriffe von dem, was oben und unten zu nennen ist (s. Gegenfüßler), durch die erwiesene Bewegung anderer noch größerer Massen, durch das Hinwegfallen der dritten Bewegung, und durch die geringe Größe der Schwungkraft, welche selbst unter dem Aequator nur (1/289) der Schwere beträgt, gar bald widerlegen.

Endlich glaubte Tycho in dem scheinbaren Laufe der Kometen keine Spur einer Veränderung des Standorts durch die Bewegung der Erde zu finden. Es ward aber die wahre Beschaffenheit des Kometenlaufs fast hundert Jahre später erst entdeckt, und seitdem ist es zuverläßig ausgemacht, daß der scheinbare Ort der Kometen allerdings durch den Stand der Erde in ihrer Bahn verändert werde.

Riccioli (Almag. nov. To. II.) hält unter 77 Gründen wider die Bewegung der Erde folgenden für den stärksten. Die Räume fallender Körper würden sich bey ruhender Erde von jeder Secunde zur andern, wie 1, 3, 5, 7 rc. verhalten. Drehte sich aber die Erde in jeder Secunde gleich weit, so würden sie sich in Diagonalen von Parallelogrammen


Erde, die ſich mit dem Luftkreiſe zugleich dreht, gaͤnzlich hinweg. Nur das Fortruͤcken der Geſtirne allein kan uns von dieſer Umdrehung belehren, ſo wie man die Bewegung eines ohne Schuͤttern und Schwanken fortgehenden Schiffs blos durch das Entgegenkommen der Ufer und Kuͤſten bemerkt.

Da Einige behauptet hatten, die Koͤrper bewegten ſich auf ſchnell ſegelnden Schiffen anders, als ſonſt, welches auch Tycho in den Briefen an Rothmann verſichert, ſo fand Gaſſendi noͤthig, im Hafen von Marſeille Verſuche hieruͤber anzuſtellen, die voͤllig fuͤr den Copernikus ausfielen, und in ſeiner Schrift De motu impreſſo a motore translato beſchrieben ſind.

Tychons uͤbrige Einwendungen ſind zum Theil ſehr ſchwach. Daß man ſich nicht vorſtellen koͤnne, aller zwoͤlf Stunden den Kopf unterwaͤrts zu kehren, daß die Erde eine grobe, plumpe, zu einer dreyfachen Bewegung ungeſchickte Maſſe ſey, daß die Schwungkraft alles zerſtreuen wuͤrde — ſind Gedanken, die ſich durch richtige Begriffe von dem, was oben und unten zu nennen iſt (ſ. Gegenfuͤßler), durch die erwieſene Bewegung anderer noch groͤßerer Maſſen, durch das Hinwegfallen der dritten Bewegung, und durch die geringe Groͤße der Schwungkraft, welche ſelbſt unter dem Aequator nur (1/289) der Schwere betraͤgt, gar bald widerlegen.

Endlich glaubte Tycho in dem ſcheinbaren Laufe der Kometen keine Spur einer Veraͤnderung des Standorts durch die Bewegung der Erde zu finden. Es ward aber die wahre Beſchaffenheit des Kometenlaufs faſt hundert Jahre ſpaͤter erſt entdeckt, und ſeitdem iſt es zuverlaͤßig ausgemacht, daß der ſcheinbare Ort der Kometen allerdings durch den Stand der Erde in ihrer Bahn veraͤndert werde.

Riccioli (Almag. nov. To. II.) haͤlt unter 77 Gruͤnden wider die Bewegung der Erde folgenden fuͤr den ſtaͤrkſten. Die Raͤume fallender Koͤrper wuͤrden ſich bey ruhender Erde von jeder Secunde zur andern, wie 1, 3, 5, 7 rc. verhalten. Drehte ſich aber die Erde in jeder Secunde gleich weit, ſo wuͤrden ſie ſich in Diagonalen von Parallelogrammen

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0739" xml:id="P.4.729" n="729"/><lb/>
Erde, die &#x017F;ich mit dem Luftkrei&#x017F;e zugleich dreht, ga&#x0364;nzlich hinweg. Nur das Fortru&#x0364;cken der Ge&#x017F;tirne allein kan uns von die&#x017F;er Umdrehung belehren, &#x017F;o wie man die Bewegung eines ohne Schu&#x0364;ttern und Schwanken fortgehenden Schiffs blos durch das Entgegenkommen der Ufer und Ku&#x0364;&#x017F;ten bemerkt.</p>
            <p>Da Einige behauptet hatten, die Ko&#x0364;rper bewegten &#x017F;ich auf &#x017F;chnell &#x017F;egelnden Schiffen anders, als &#x017F;on&#x017F;t, welches auch <hi rendition="#b">Tycho</hi> in den Briefen an Rothmann ver&#x017F;ichert, &#x017F;o fand <hi rendition="#b">Ga&#x017F;&#x017F;endi</hi> no&#x0364;thig, im Hafen von Mar&#x017F;eille Ver&#x017F;uche hieru&#x0364;ber anzu&#x017F;tellen, die vo&#x0364;llig fu&#x0364;r den Copernikus ausfielen, und in &#x017F;einer Schrift <hi rendition="#aq">De motu impre&#x017F;&#x017F;o a motore translato</hi> be&#x017F;chrieben &#x017F;ind.</p>
            <p><hi rendition="#b">Tychons</hi> u&#x0364;brige Einwendungen &#x017F;ind zum Theil &#x017F;ehr &#x017F;chwach. Daß man &#x017F;ich nicht vor&#x017F;tellen ko&#x0364;nne, aller zwo&#x0364;lf Stunden den Kopf unterwa&#x0364;rts zu kehren, daß die Erde eine grobe, plumpe, zu einer dreyfachen Bewegung unge&#x017F;chickte Ma&#x017F;&#x017F;e &#x017F;ey, daß die Schwungkraft alles zer&#x017F;treuen wu&#x0364;rde &#x2014; &#x017F;ind Gedanken, die &#x017F;ich durch richtige Begriffe von dem, was oben und unten zu nennen i&#x017F;t (<hi rendition="#b">&#x017F;. Gegenfu&#x0364;ßler</hi>), durch die erwie&#x017F;ene Bewegung anderer noch gro&#x0364;ßerer Ma&#x017F;&#x017F;en, durch das Hinwegfallen der dritten Bewegung, und durch die geringe Gro&#x0364;ße der Schwungkraft, welche &#x017F;elb&#x017F;t unter dem Aequator nur (1/289) der Schwere betra&#x0364;gt, gar bald widerlegen.</p>
            <p>Endlich glaubte <hi rendition="#b">Tycho</hi> in dem &#x017F;cheinbaren Laufe der Kometen keine Spur einer Vera&#x0364;nderung des Standorts durch die Bewegung der Erde zu finden. Es ward aber die wahre Be&#x017F;chaffenheit des Kometenlaufs fa&#x017F;t hundert Jahre &#x017F;pa&#x0364;ter er&#x017F;t entdeckt, und &#x017F;eitdem i&#x017F;t es zuverla&#x0364;ßig ausgemacht, daß der &#x017F;cheinbare Ort der Kometen allerdings durch den Stand der Erde in ihrer Bahn vera&#x0364;ndert werde.</p>
            <p><hi rendition="#b">Riccioli</hi> (<hi rendition="#aq">Almag. nov. To. II.</hi>) ha&#x0364;lt unter 77 Gru&#x0364;nden wider die Bewegung der Erde folgenden fu&#x0364;r den &#x017F;ta&#x0364;rk&#x017F;ten. Die Ra&#x0364;ume fallender Ko&#x0364;rper wu&#x0364;rden &#x017F;ich bey ruhender Erde von jeder Secunde zur andern, wie 1, 3, 5, 7 rc. verhalten. Drehte &#x017F;ich aber die Erde in jeder Secunde gleich weit, &#x017F;o wu&#x0364;rden &#x017F;ie &#x017F;ich in Diagonalen von Parallelogrammen<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[729/0739] Erde, die ſich mit dem Luftkreiſe zugleich dreht, gaͤnzlich hinweg. Nur das Fortruͤcken der Geſtirne allein kan uns von dieſer Umdrehung belehren, ſo wie man die Bewegung eines ohne Schuͤttern und Schwanken fortgehenden Schiffs blos durch das Entgegenkommen der Ufer und Kuͤſten bemerkt. Da Einige behauptet hatten, die Koͤrper bewegten ſich auf ſchnell ſegelnden Schiffen anders, als ſonſt, welches auch Tycho in den Briefen an Rothmann verſichert, ſo fand Gaſſendi noͤthig, im Hafen von Marſeille Verſuche hieruͤber anzuſtellen, die voͤllig fuͤr den Copernikus ausfielen, und in ſeiner Schrift De motu impreſſo a motore translato beſchrieben ſind. Tychons uͤbrige Einwendungen ſind zum Theil ſehr ſchwach. Daß man ſich nicht vorſtellen koͤnne, aller zwoͤlf Stunden den Kopf unterwaͤrts zu kehren, daß die Erde eine grobe, plumpe, zu einer dreyfachen Bewegung ungeſchickte Maſſe ſey, daß die Schwungkraft alles zerſtreuen wuͤrde — ſind Gedanken, die ſich durch richtige Begriffe von dem, was oben und unten zu nennen iſt (ſ. Gegenfuͤßler), durch die erwieſene Bewegung anderer noch groͤßerer Maſſen, durch das Hinwegfallen der dritten Bewegung, und durch die geringe Groͤße der Schwungkraft, welche ſelbſt unter dem Aequator nur (1/289) der Schwere betraͤgt, gar bald widerlegen. Endlich glaubte Tycho in dem ſcheinbaren Laufe der Kometen keine Spur einer Veraͤnderung des Standorts durch die Bewegung der Erde zu finden. Es ward aber die wahre Beſchaffenheit des Kometenlaufs faſt hundert Jahre ſpaͤter erſt entdeckt, und ſeitdem iſt es zuverlaͤßig ausgemacht, daß der ſcheinbare Ort der Kometen allerdings durch den Stand der Erde in ihrer Bahn veraͤndert werde. Riccioli (Almag. nov. To. II.) haͤlt unter 77 Gruͤnden wider die Bewegung der Erde folgenden fuͤr den ſtaͤrkſten. Die Raͤume fallender Koͤrper wuͤrden ſich bey ruhender Erde von jeder Secunde zur andern, wie 1, 3, 5, 7 rc. verhalten. Drehte ſich aber die Erde in jeder Secunde gleich weit, ſo wuͤrden ſie ſich in Diagonalen von Parallelogrammen

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Bibliothek des Max-Planck-Instituts für Wissenschaftsgeschichte : Bereitstellung der Texttranskription. (2015-09-02T12:13:09Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Matthias Boenig: Bearbeitung der digitalen Edition. (2015-09-02T12:13:09Z)

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: keine Angabe; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): keine Angabe; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: keine Angabe; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine Angabe; rundes r (&#xa75b;): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: keine Angabe; Zeichensetzung: keine Angabe; Zeilenumbrüche markiert: nein;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/gehler_woerterbuch04_1798
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/gehler_woerterbuch04_1798/739
Zitationshilfe: Gehler, Johann Samuel Traugott: Physikalisches Wörterbuch, oder, Versuch einer Erklärung der vornehmsten Begriffe und Kunstwörter der Naturlehre. Bd. 4. Leipzig, 1798, S. 729. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gehler_woerterbuch04_1798/739>, abgerufen am 12.06.2024.