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Gehler, Johann Samuel Traugott: Physikalisches Wörterbuch, oder, Versuch einer Erklärung der vornehmsten Begriffe und Kunstwörter der Naturlehre. Bd. 4. Leipzig, 1798.

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Von Haller (Physiolog. Vol. V. p. 474.) bemerkt, daß eigentlich Mariottens ganzer Versuch nichts beweise. Denn an der unempfindlichen Stelle sey gar keine Netzhaut vorhanden, sondern eine weiße cellulöse Haut, die zum Sehen untauglich seyn könne, ohne daß es darum die Netzhaut auch seyn müßte. Die Aderhaut sey zum Sehen ungeschickt, weil sie von dem schwarzen Schleime bedeckt werde, und wenn ja die Lichtstralen diesen durchdrängen, so würden sie auf die braune, zottigte ruyschische Lamelle stoßen und darunter eine unzählbare Menge Gefäße, aber wenig oder gar keine Nerven finden, also kein vollständiges zusammenhängendes Bild entwerfen können. Zinn (Descript. anatom. oculi hum. p. 37. 38.) bemerkt auch, daß die Aderhaut keine Fortsetzung der dünnen Haut des Sehnervens sey, oder mit der dünnen Hirnhaut unmittelbar zusammenhänge; vielmehr finde man beyde durch ein zelliges Gewebe von einander abgesondert. Es scheint also ziemlich ausgemacht, daß man keinen Grund habe, den Sitz des Sehens anderswo, als auf der Netzhaut, anzunehmen.

Die Lehre vom deutlichen und undeutlichen Sehen hat D. Jurin in einer dem Smithschen Lehrbegriffe der Optik (der deutschen Uebers. S. 483. u. f.) beygefügten Abhandlung am besten untersucht, womit noch Lambert (Photometrie, S. 490. u. f.) zu verbinden ist. Man sagt, eine Sache werde deutlich gesehen, wenn ihre äußern Grenzen wohl bestimmt erscheinen, und ihre Theile sich gut unterscheiden lassen. Hiezu wird erfordert, daß das Bild im Auge deutlich sey, oder daß alle Stralen, die von einem Punkte der Sache ausgehen, sich wieder in einem Punkte der Netzhaut, oder wenigstens auf einer einzigen empfindlichen Stelle, einer einzigen Nervenspitze, vereinigen. Es ist aber eine so genaue Vereinigung, besonders bey größern Gegenständen, nicht einmal nöthig. Man kan daher vollkommnes Sehen von blos deutlichem unterscheiden. Das vollkommne hängt bey einer gegebnen Einrichtung des Auges blos von der Entfernung des Gegenstandes, das blos deutliche zugleich von seiner Größe ab. Wenn die Stralenkegel nicht genau auf der Netzhaut vereiniget werden,


Von Haller (Phyſiolog. Vol. V. p. 474.) bemerkt, daß eigentlich Mariottens ganzer Verſuch nichts beweiſe. Denn an der unempfindlichen Stelle ſey gar keine Netzhaut vorhanden, ſondern eine weiße celluloͤſe Haut, die zum Sehen untauglich ſeyn koͤnne, ohne daß es darum die Netzhaut auch ſeyn muͤßte. Die Aderhaut ſey zum Sehen ungeſchickt, weil ſie von dem ſchwarzen Schleime bedeckt werde, und wenn ja die Lichtſtralen dieſen durchdraͤngen, ſo wuͤrden ſie auf die braune, zottigte ruyſchiſche Lamelle ſtoßen und darunter eine unzaͤhlbare Menge Gefaͤße, aber wenig oder gar keine Nerven finden, alſo kein vollſtaͤndiges zuſammenhaͤngendes Bild entwerfen koͤnnen. Zinn (Deſcript. anatom. oculi hum. p. 37. 38.) bemerkt auch, daß die Aderhaut keine Fortſetzung der duͤnnen Haut des Sehnervens ſey, oder mit der duͤnnen Hirnhaut unmittelbar zuſammenhaͤnge; vielmehr finde man beyde durch ein zelliges Gewebe von einander abgeſondert. Es ſcheint alſo ziemlich ausgemacht, daß man keinen Grund habe, den Sitz des Sehens anderswo, als auf der Netzhaut, anzunehmen.

Die Lehre vom deutlichen und undeutlichen Sehen hat D. Jurin in einer dem Smithſchen Lehrbegriffe der Optik (der deutſchen Ueberſ. S. 483. u. f.) beygefuͤgten Abhandlung am beſten unterſucht, womit noch Lambert (Photometrie, S. 490. u. f.) zu verbinden iſt. Man ſagt, eine Sache werde deutlich geſehen, wenn ihre aͤußern Grenzen wohl beſtimmt erſcheinen, und ihre Theile ſich gut unterſcheiden laſſen. Hiezu wird erfordert, daß das Bild im Auge deutlich ſey, oder daß alle Stralen, die von einem Punkte der Sache ausgehen, ſich wieder in einem Punkte der Netzhaut, oder wenigſtens auf einer einzigen empfindlichen Stelle, einer einzigen Nervenſpitze, vereinigen. Es iſt aber eine ſo genaue Vereinigung, beſonders bey groͤßern Gegenſtaͤnden, nicht einmal noͤthig. Man kan daher vollkommnes Sehen von blos deutlichem unterſcheiden. Das vollkommne haͤngt bey einer gegebnen Einrichtung des Auges blos von der Entfernung des Gegenſtandes, das blos deutliche zugleich von ſeiner Groͤße ab. Wenn die Stralenkegel nicht genau auf der Netzhaut vereiniget werden,

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[26/0036] Von Haller (Phyſiolog. Vol. V. p. 474.) bemerkt, daß eigentlich Mariottens ganzer Verſuch nichts beweiſe. Denn an der unempfindlichen Stelle ſey gar keine Netzhaut vorhanden, ſondern eine weiße celluloͤſe Haut, die zum Sehen untauglich ſeyn koͤnne, ohne daß es darum die Netzhaut auch ſeyn muͤßte. Die Aderhaut ſey zum Sehen ungeſchickt, weil ſie von dem ſchwarzen Schleime bedeckt werde, und wenn ja die Lichtſtralen dieſen durchdraͤngen, ſo wuͤrden ſie auf die braune, zottigte ruyſchiſche Lamelle ſtoßen und darunter eine unzaͤhlbare Menge Gefaͤße, aber wenig oder gar keine Nerven finden, alſo kein vollſtaͤndiges zuſammenhaͤngendes Bild entwerfen koͤnnen. Zinn (Deſcript. anatom. oculi hum. p. 37. 38.) bemerkt auch, daß die Aderhaut keine Fortſetzung der duͤnnen Haut des Sehnervens ſey, oder mit der duͤnnen Hirnhaut unmittelbar zuſammenhaͤnge; vielmehr finde man beyde durch ein zelliges Gewebe von einander abgeſondert. Es ſcheint alſo ziemlich ausgemacht, daß man keinen Grund habe, den Sitz des Sehens anderswo, als auf der Netzhaut, anzunehmen. Die Lehre vom deutlichen und undeutlichen Sehen hat D. Jurin in einer dem Smithſchen Lehrbegriffe der Optik (der deutſchen Ueberſ. S. 483. u. f.) beygefuͤgten Abhandlung am beſten unterſucht, womit noch Lambert (Photometrie, S. 490. u. f.) zu verbinden iſt. Man ſagt, eine Sache werde deutlich geſehen, wenn ihre aͤußern Grenzen wohl beſtimmt erſcheinen, und ihre Theile ſich gut unterſcheiden laſſen. Hiezu wird erfordert, daß das Bild im Auge deutlich ſey, oder daß alle Stralen, die von einem Punkte der Sache ausgehen, ſich wieder in einem Punkte der Netzhaut, oder wenigſtens auf einer einzigen empfindlichen Stelle, einer einzigen Nervenſpitze, vereinigen. Es iſt aber eine ſo genaue Vereinigung, beſonders bey groͤßern Gegenſtaͤnden, nicht einmal noͤthig. Man kan daher vollkommnes Sehen von blos deutlichem unterſcheiden. Das vollkommne haͤngt bey einer gegebnen Einrichtung des Auges blos von der Entfernung des Gegenſtandes, das blos deutliche zugleich von ſeiner Groͤße ab. Wenn die Stralenkegel nicht genau auf der Netzhaut vereiniget werden,

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Zitationshilfe: Gehler, Johann Samuel Traugott: Physikalisches Wörterbuch, oder, Versuch einer Erklärung der vornehmsten Begriffe und Kunstwörter der Naturlehre. Bd. 4. Leipzig, 1798, S. 26. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gehler_woerterbuch04_1798/36>, abgerufen am 18.04.2024.