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Gehler, Johann Samuel Traugott: Physikalisches Wörterbuch, oder, Versuch einer Erklärung der vornehmsten Begriffe und Kunstwörter der Naturlehre. Bd. 4. Leipzig, 1798.

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die Seele das Bild im Auge ihres Körpers nicht wieder mit andern Augen ansieht, sondern nur Empfindungen erhält, die nach gewissen Gesetzen mit diesem Bilde übereinstimmen, und die sie erst durch Erfahrung, Vergleichung und Uebung ordnen und beurtheilen lernt.

Eine ähnliche Bewandniß hat es mit einer andern Frage, nemlich: warum wir die Dinge mit zwey Augen nur einfach sehen, da doch jedes Auge ein Bild macht und eine besondere Empfindung veranlaffet? Man hat davon eine Menge Erklärungen geben wollen. Gassendi (Opp. To. II. p. 395.) glaubte, man brauche jedesmal nur ein Auge, und lasse das andere ruhen. Newton (Optic. Quaest. 25.) erklärte das einfache Sehen aus der Vereinigung beyder Sehnerven, wogegen Porterfield (On the Eye, Vol. II. p. 285.) aus den Beobachtungen mehrerer Zergliederer erweiset, daß die Sehnerven sich nicht vermischen, sondern nur an einander anlegen; auch hat schon Kepler (Dioptr. prop. 62.) bemerkt, daß die Ursache nicht in einer solchen Vereinigung liegen könne, weil wir sonst nie eine Sache doppelt sehen würden, wie doch in manchen Fällen geschieht. D. Briggs (Nova visionis theoria, p. 25.) leitet das einfache Sehen von der gleichstarken Spannung der übereinstimmenden Theile beyder Sehnerven her, welche mache, daß sie gleichzeitige Schwingungen bekämen. Porterfield selbst hält es für eine ursprüngliche Einrichtung der Natur, daß wir die Dinge in der geraden Linie sehen, welche auf die Netzhaut an der Stelle des Bildes senkrecht ist; daher jeder Gegenstand beyden Augen an eben derselben Stelle erscheine. Wenn man aber das eine Auge verdrehe, so irre sich die Seele in Absicht auf die Lage des Auges, und bilde sich ein, es habe sich mit dem andern gleichförmig bewegt, als in welchem Falle das Urtheil von einem doppelten Gegenstande bey doppeltem Bilde richtig seyn würde. Diese Erklärung aber ist allein noch nicht hinreichend; man müßte der Seele noch überdies ein natürliches Vermögen beylegen, von der Entfernung der Gegenstände zu urtheilen, damit sie die Stelle der Sache nicht in verschiedene Punkte dieser geraden Linie setze.


die Seele das Bild im Auge ihres Koͤrpers nicht wieder mit andern Augen anſieht, ſondern nur Empfindungen erhaͤlt, die nach gewiſſen Geſetzen mit dieſem Bilde uͤbereinſtimmen, und die ſie erſt durch Erfahrung, Vergleichung und Uebung ordnen und beurtheilen lernt.

Eine aͤhnliche Bewandniß hat es mit einer andern Frage, nemlich: warum wir die Dinge mit zwey Augen nur einfach ſehen, da doch jedes Auge ein Bild macht und eine beſondere Empfindung veranlaffet? Man hat davon eine Menge Erklaͤrungen geben wollen. Gaſſendi (Opp. To. II. p. 395.) glaubte, man brauche jedesmal nur ein Auge, und laſſe das andere ruhen. Newton (Optic. Quaeſt. 25.) erklaͤrte das einfache Sehen aus der Vereinigung beyder Sehnerven, wogegen Porterfield (On the Eye, Vol. II. p. 285.) aus den Beobachtungen mehrerer Zergliederer erweiſet, daß die Sehnerven ſich nicht vermiſchen, ſondern nur an einander anlegen; auch hat ſchon Kepler (Dioptr. prop. 62.) bemerkt, daß die Urſache nicht in einer ſolchen Vereinigung liegen koͤnne, weil wir ſonſt nie eine Sache doppelt ſehen wuͤrden, wie doch in manchen Faͤllen geſchieht. D. Briggs (Nova viſionis theoria, p. 25.) leitet das einfache Sehen von der gleichſtarken Spannung der uͤbereinſtimmenden Theile beyder Sehnerven her, welche mache, daß ſie gleichzeitige Schwingungen bekaͤmen. Porterfield ſelbſt haͤlt es fuͤr eine urſpruͤngliche Einrichtung der Natur, daß wir die Dinge in der geraden Linie ſehen, welche auf die Netzhaut an der Stelle des Bildes ſenkrecht iſt; daher jeder Gegenſtand beyden Augen an eben derſelben Stelle erſcheine. Wenn man aber das eine Auge verdrehe, ſo irre ſich die Seele in Abſicht auf die Lage des Auges, und bilde ſich ein, es habe ſich mit dem andern gleichfoͤrmig bewegt, als in welchem Falle das Urtheil von einem doppelten Gegenſtande bey doppeltem Bilde richtig ſeyn wuͤrde. Dieſe Erklaͤrung aber iſt allein noch nicht hinreichend; man muͤßte der Seele noch uͤberdies ein natuͤrliches Vermoͤgen beylegen, von der Entfernung der Gegenſtaͤnde zu urtheilen, damit ſie die Stelle der Sache nicht in verſchiedene Punkte dieſer geraden Linie ſetze.

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[20/0030] die Seele das Bild im Auge ihres Koͤrpers nicht wieder mit andern Augen anſieht, ſondern nur Empfindungen erhaͤlt, die nach gewiſſen Geſetzen mit dieſem Bilde uͤbereinſtimmen, und die ſie erſt durch Erfahrung, Vergleichung und Uebung ordnen und beurtheilen lernt. Eine aͤhnliche Bewandniß hat es mit einer andern Frage, nemlich: warum wir die Dinge mit zwey Augen nur einfach ſehen, da doch jedes Auge ein Bild macht und eine beſondere Empfindung veranlaffet? Man hat davon eine Menge Erklaͤrungen geben wollen. Gaſſendi (Opp. To. II. p. 395.) glaubte, man brauche jedesmal nur ein Auge, und laſſe das andere ruhen. Newton (Optic. Quaeſt. 25.) erklaͤrte das einfache Sehen aus der Vereinigung beyder Sehnerven, wogegen Porterfield (On the Eye, Vol. II. p. 285.) aus den Beobachtungen mehrerer Zergliederer erweiſet, daß die Sehnerven ſich nicht vermiſchen, ſondern nur an einander anlegen; auch hat ſchon Kepler (Dioptr. prop. 62.) bemerkt, daß die Urſache nicht in einer ſolchen Vereinigung liegen koͤnne, weil wir ſonſt nie eine Sache doppelt ſehen wuͤrden, wie doch in manchen Faͤllen geſchieht. D. Briggs (Nova viſionis theoria, p. 25.) leitet das einfache Sehen von der gleichſtarken Spannung der uͤbereinſtimmenden Theile beyder Sehnerven her, welche mache, daß ſie gleichzeitige Schwingungen bekaͤmen. Porterfield ſelbſt haͤlt es fuͤr eine urſpruͤngliche Einrichtung der Natur, daß wir die Dinge in der geraden Linie ſehen, welche auf die Netzhaut an der Stelle des Bildes ſenkrecht iſt; daher jeder Gegenſtand beyden Augen an eben derſelben Stelle erſcheine. Wenn man aber das eine Auge verdrehe, ſo irre ſich die Seele in Abſicht auf die Lage des Auges, und bilde ſich ein, es habe ſich mit dem andern gleichfoͤrmig bewegt, als in welchem Falle das Urtheil von einem doppelten Gegenſtande bey doppeltem Bilde richtig ſeyn wuͤrde. Dieſe Erklaͤrung aber iſt allein noch nicht hinreichend; man muͤßte der Seele noch uͤberdies ein natuͤrliches Vermoͤgen beylegen, von der Entfernung der Gegenſtaͤnde zu urtheilen, damit ſie die Stelle der Sache nicht in verſchiedene Punkte dieſer geraden Linie ſetze.

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Zitationshilfe: Gehler, Johann Samuel Traugott: Physikalisches Wörterbuch, oder, Versuch einer Erklärung der vornehmsten Begriffe und Kunstwörter der Naturlehre. Bd. 4. Leipzig, 1798, S. 20. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gehler_woerterbuch04_1798/30>, abgerufen am 16.04.2024.