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Gehler, Johann Samuel Traugott: Physikalisches Wörterbuch, oder, Versuch einer Erklärung der vornehmsten Begriffe und Kunstwörter der Naturlehre. Bd. 4. Leipzig, 1798.

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Sehens, ingleichen vom Auge, als dem dazu bestimmten Werkzeuge ist unter eignen Artikeln gehandelt worden; hier bleibt uns noch die Empfindung des Sehens selbst, und die Art, wie wir über dieselbe urtheilen, zu betrachten übrig.

Die Lichtstralen, welche von den Gegenständen ins Auge kommen, entwerfen auf der Netzhaut oder Markhaut desselben ein umgekehrtes Bild, s. Auge (Th. I. S. 192 u. f.). In dieser Rücksicht ist das Auge einem verfinsterten Zimmer ähnlich; aber man würde die Vergleichung zu weit treiben, wenn man sich die Seele als den Zuschauer in diesem Zimmer vorstellen, und etwa glauben wollte, sie empfände die Gegenstände durch eine wirkliche Anschauung des im Auge entworfenen Bildes. Eine solche Erklärung würde der Seele gleichsam ein zweytes Auge beylegen, womit sie das Bild im ersten anblickte; ein Gedanke, dem man nicht Raum geben kan, ohne die Erklärungen in einem ewigen Kreise umlaufen zu lassen.

Dennoch hat die Beschaffenheit des Sehens selbst, sehr viel mit der Beschaffenheit des Bildes gemein. Man sieht die Gegenstände in eben der Ordnung neben einander, in welcher die Theile des Bildes im Auge liegen; sie stellen sich größer oder kleiner dar, je nachdem ihre Bilder größer oder kleiner sind; sie erscheinen ruhend oder bewegt, je nachdem die Bilder ihre Stellen behalten oder verändern; endlich ist auch die Deutlichkeit oder Undeutlichkeit des Sehens unzertrennlich mit Deutlichkeit oder Undeutlichkeit der Bilder verknüpft. Das Sehen stimmt also mit dem Bilde überein, obgleich nicht das Bild gesehen wird.

Die Ursache dieser Uebereinstimmung kan ich mir am besten auf folgende Art vorstellen. Die Netzhaut mag ein zartes Gewebe von unzählbaren Nerven seyn, welche aus dem Gehirn hervorgehen, zusammen den Sehnerven ausmachen, und sich auf der Fläche der Netzhaut in unendlich feine Wärzchen oder Spitzen enden. Diese Nervenspitzen sind der eigentliche Sitz des Gesichts, wie die Fühlkörner der Sitz des Gefühls sind, s. Gefühl. Jede Spitze bringt durch den Nerven, dem sie zugehört, die Empfindung des Lichtstrals, von dem sie getroffen wird,


Sehens, ingleichen vom Auge, als dem dazu beſtimmten Werkzeuge iſt unter eignen Artikeln gehandelt worden; hier bleibt uns noch die Empfindung des Sehens ſelbſt, und die Art, wie wir uͤber dieſelbe urtheilen, zu betrachten uͤbrig.

Die Lichtſtralen, welche von den Gegenſtaͤnden ins Auge kommen, entwerfen auf der Netzhaut oder Markhaut deſſelben ein umgekehrtes Bild, ſ. Auge (Th. I. S. 192 u. f.). In dieſer Ruͤckſicht iſt das Auge einem verfinſterten Zimmer aͤhnlich; aber man wuͤrde die Vergleichung zu weit treiben, wenn man ſich die Seele als den Zuſchauer in dieſem Zimmer vorſtellen, und etwa glauben wollte, ſie empfaͤnde die Gegenſtaͤnde durch eine wirkliche Anſchauung des im Auge entworfenen Bildes. Eine ſolche Erklaͤrung wuͤrde der Seele gleichſam ein zweytes Auge beylegen, womit ſie das Bild im erſten anblickte; ein Gedanke, dem man nicht Raum geben kan, ohne die Erklaͤrungen in einem ewigen Kreiſe umlaufen zu laſſen.

Dennoch hat die Beſchaffenheit des Sehens ſelbſt, ſehr viel mit der Beſchaffenheit des Bildes gemein. Man ſieht die Gegenſtaͤnde in eben der Ordnung neben einander, in welcher die Theile des Bildes im Auge liegen; ſie ſtellen ſich groͤßer oder kleiner dar, je nachdem ihre Bilder groͤßer oder kleiner ſind; ſie erſcheinen ruhend oder bewegt, je nachdem die Bilder ihre Stellen behalten oder veraͤndern; endlich iſt auch die Deutlichkeit oder Undeutlichkeit des Sehens unzertrennlich mit Deutlichkeit oder Undeutlichkeit der Bilder verknuͤpft. Das Sehen ſtimmt alſo mit dem Bilde uͤberein, obgleich nicht das Bild geſehen wird.

Die Urſache dieſer Uebereinſtimmung kan ich mir am beſten auf folgende Art vorſtellen. Die Netzhaut mag ein zartes Gewebe von unzaͤhlbaren Nerven ſeyn, welche aus dem Gehirn hervorgehen, zuſammen den Sehnerven ausmachen, und ſich auf der Flaͤche der Netzhaut in unendlich feine Waͤrzchen oder Spitzen enden. Dieſe Nervenſpitzen ſind der eigentliche Sitz des Geſichts, wie die Fuͤhlkoͤrner der Sitz des Gefuͤhls ſind, ſ. Gefuͤhl. Jede Spitze bringt durch den Nerven, dem ſie zugehoͤrt, die Empfindung des Lichtſtrals, von dem ſie getroffen wird,

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[11/0021] Sehens, ingleichen vom Auge, als dem dazu beſtimmten Werkzeuge iſt unter eignen Artikeln gehandelt worden; hier bleibt uns noch die Empfindung des Sehens ſelbſt, und die Art, wie wir uͤber dieſelbe urtheilen, zu betrachten uͤbrig. Die Lichtſtralen, welche von den Gegenſtaͤnden ins Auge kommen, entwerfen auf der Netzhaut oder Markhaut deſſelben ein umgekehrtes Bild, ſ. Auge (Th. I. S. 192 u. f.). In dieſer Ruͤckſicht iſt das Auge einem verfinſterten Zimmer aͤhnlich; aber man wuͤrde die Vergleichung zu weit treiben, wenn man ſich die Seele als den Zuſchauer in dieſem Zimmer vorſtellen, und etwa glauben wollte, ſie empfaͤnde die Gegenſtaͤnde durch eine wirkliche Anſchauung des im Auge entworfenen Bildes. Eine ſolche Erklaͤrung wuͤrde der Seele gleichſam ein zweytes Auge beylegen, womit ſie das Bild im erſten anblickte; ein Gedanke, dem man nicht Raum geben kan, ohne die Erklaͤrungen in einem ewigen Kreiſe umlaufen zu laſſen. Dennoch hat die Beſchaffenheit des Sehens ſelbſt, ſehr viel mit der Beſchaffenheit des Bildes gemein. Man ſieht die Gegenſtaͤnde in eben der Ordnung neben einander, in welcher die Theile des Bildes im Auge liegen; ſie ſtellen ſich groͤßer oder kleiner dar, je nachdem ihre Bilder groͤßer oder kleiner ſind; ſie erſcheinen ruhend oder bewegt, je nachdem die Bilder ihre Stellen behalten oder veraͤndern; endlich iſt auch die Deutlichkeit oder Undeutlichkeit des Sehens unzertrennlich mit Deutlichkeit oder Undeutlichkeit der Bilder verknuͤpft. Das Sehen ſtimmt alſo mit dem Bilde uͤberein, obgleich nicht das Bild geſehen wird. Die Urſache dieſer Uebereinſtimmung kan ich mir am beſten auf folgende Art vorſtellen. Die Netzhaut mag ein zartes Gewebe von unzaͤhlbaren Nerven ſeyn, welche aus dem Gehirn hervorgehen, zuſammen den Sehnerven ausmachen, und ſich auf der Flaͤche der Netzhaut in unendlich feine Waͤrzchen oder Spitzen enden. Dieſe Nervenſpitzen ſind der eigentliche Sitz des Geſichts, wie die Fuͤhlkoͤrner der Sitz des Gefuͤhls ſind, ſ. Gefuͤhl. Jede Spitze bringt durch den Nerven, dem ſie zugehoͤrt, die Empfindung des Lichtſtrals, von dem ſie getroffen wird,

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Zitationshilfe: Gehler, Johann Samuel Traugott: Physikalisches Wörterbuch, oder, Versuch einer Erklärung der vornehmsten Begriffe und Kunstwörter der Naturlehre. Bd. 4. Leipzig, 1798, S. 11. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gehler_woerterbuch04_1798/21>, abgerufen am 25.04.2024.