Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Gehler, Johann Samuel Traugott: Physikalisches Wörterbuch, oder, Versuch einer Erklärung der vornehmsten Begriffe und Kunstwörter der Naturlehre. Bd. 3. Leipzig, 1798.

Bild:
<< vorherige Seite


Naturgesetzen, und es lassen sich ihm unzählbare Phänomene unterorduen, und wieder aus ihm herleiten.

Die vornehmsten Naturgesetze sind in diesem Wörterbuche an der Stelle, die dem Worte: Gesetze gehört (Th. II. S. 465 u. f.) namentlich angeführt, mit Verweisung auf die Artikel, welche von jedem derselben ausführlichere Nachricht geben.

Alle diese Gesetze gründen sich auf Erfahrung, und was man aus ihnen schließt oder herleitet, ist auf Induction gebaut. Man schließt nemlich, was in allen bekannten Fällen erfolgt sey, werde oder müsse in eben diesen Fällen allezeit wieder erfolgen. So sind die Naturgesetze eigentlich Sammlungen von Erfahrungen, die man blos der Erleichterung und guten Methode wegen in allgemeine Sätze zusammenfaßt -- wirklich sind in der Natur nur die einzelnen Wirkungen vorhanden, die Gesetze eristiren blos in den Ideen der Naturforscher, oder in dem System der Naturlehre.

Daher ist auch die Kenntniß der Naturgesetze noch nicht Kenntniß der wirkenden Ursachen und des Mechanismus, durch den die Phänomene in der That hervorgebracht werden. Die Gesetze lehren nur, was geschehe, nicht wodurch und wie es geschehe. So ist Ursache und Mechanismus der Gravitation, der Mittheilung der Bewegung u. s. w. gänzlich unbekannt, ob wir gleich die Gesetze dieser Phänomene sehr wohl kennen. Eben dies ist der Fall bey den meisten physikalischen Gegenständen. Zum Glück ist die Kenntniß der Gesetze für den praktischen Gebrauch bey weitem nützlicher, als die Kenntniß der Ursachen, welche sehr ost blos zu Befriedigung der Wißbegierde dient; bisweilen hat aber auch die genaue Bestimmung der Gesetze auf die Entdeckung der Ursachen geleitet.

Wenn die scholastischen Physiker die Phänoment des Saugens und der Spritzen aus einem Abscheu der Natur gegen die Leere erklärten, so lag darunter eigentlich der allgemeine Satz verborgen: Im Luftkreise werden die Körper gegen jeden luftleeren Raum nach allen Seiten zu getrieben. Diesen wahren Erfahrungssatz kleidete man irrig so ein, daß er die Kenntniß einer Ursache zu enthalten schien,


Naturgeſetzen, und es laſſen ſich ihm unzaͤhlbare Phaͤnomene unterorduen, und wieder aus ihm herleiten.

Die vornehmſten Naturgeſetze ſind in dieſem Woͤrterbuche an der Stelle, die dem Worte: Geſetze gehoͤrt (Th. II. S. 465 u. f.) namentlich angefuͤhrt, mit Verweiſung auf die Artikel, welche von jedem derſelben ausfuͤhrlichere Nachricht geben.

Alle dieſe Geſetze gruͤnden ſich auf Erfahrung, und was man aus ihnen ſchließt oder herleitet, iſt auf Induction gebaut. Man ſchließt nemlich, was in allen bekannten Faͤllen erfolgt ſey, werde oder muͤſſe in eben dieſen Faͤllen allezeit wieder erfolgen. So ſind die Naturgeſetze eigentlich Sammlungen von Erfahrungen, die man blos der Erleichterung und guten Methode wegen in allgemeine Saͤtze zuſammenfaßt — wirklich ſind in der Natur nur die einzelnen Wirkungen vorhanden, die Geſetze eriſtiren blos in den Ideen der Naturforſcher, oder in dem Syſtem der Naturlehre.

Daher iſt auch die Kenntniß der Naturgeſetze noch nicht Kenntniß der wirkenden Urſachen und des Mechaniſmus, durch den die Phaͤnomene in der That hervorgebracht werden. Die Geſetze lehren nur, was geſchehe, nicht wodurch und wie es geſchehe. So iſt Urſache und Mechanismus der Gravitation, der Mittheilung der Bewegung u. ſ. w. gaͤnzlich unbekannt, ob wir gleich die Geſetze dieſer Phaͤnomene ſehr wohl kennen. Eben dies iſt der Fall bey den meiſten phyſikaliſchen Gegenſtaͤnden. Zum Gluͤck iſt die Kenntniß der Geſetze fuͤr den praktiſchen Gebrauch bey weitem nuͤtzlicher, als die Kenntniß der Urſachen, welche ſehr oſt blos zu Befriedigung der Wißbegierde dient; bisweilen hat aber auch die genaue Beſtimmung der Geſetze auf die Entdeckung der Urſachen geleitet.

Wenn die ſcholaſtiſchen Phyſiker die Phaͤnoment des Saugens und der Spritzen aus einem Abſcheu der Natur gegen die Leere erklaͤrten, ſo lag darunter eigentlich der allgemeine Satz verborgen: Im Luftkreiſe werden die Koͤrper gegen jeden luftleeren Raum nach allen Seiten zu getrieben. Dieſen wahren Erfahrungsſatz kleidete man irrig ſo ein, daß er die Kenntniß einer Urſache zu enthalten ſchien,

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0330" xml:id="P.3.324" n="324"/><lb/>
Naturge&#x017F;etzen, und es la&#x017F;&#x017F;en &#x017F;ich ihm unza&#x0364;hlbare Pha&#x0364;nomene unterorduen, und wieder aus ihm herleiten.</p>
            <p>Die vornehm&#x017F;ten Naturge&#x017F;etze &#x017F;ind in die&#x017F;em Wo&#x0364;rterbuche an der Stelle, die dem Worte: <hi rendition="#b">Ge&#x017F;etze</hi> geho&#x0364;rt (Th. <hi rendition="#aq">II.</hi> S. 465 u. f.) namentlich angefu&#x0364;hrt, mit Verwei&#x017F;ung auf die Artikel, welche von jedem der&#x017F;elben ausfu&#x0364;hrlichere Nachricht geben.</p>
            <p>Alle die&#x017F;e Ge&#x017F;etze gru&#x0364;nden &#x017F;ich auf Erfahrung, und was man aus ihnen &#x017F;chließt oder herleitet, i&#x017F;t auf Induction gebaut. Man &#x017F;chließt nemlich, was in allen bekannten Fa&#x0364;llen erfolgt &#x017F;ey, werde oder mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;e in eben die&#x017F;en Fa&#x0364;llen allezeit wieder erfolgen. So &#x017F;ind die Naturge&#x017F;etze eigentlich Sammlungen von Erfahrungen, die man blos der Erleichterung und guten Methode wegen in allgemeine Sa&#x0364;tze zu&#x017F;ammenfaßt &#x2014; wirklich &#x017F;ind in der Natur nur die einzelnen Wirkungen vorhanden, die Ge&#x017F;etze eri&#x017F;tiren blos in den Ideen der Naturfor&#x017F;cher, oder in dem Sy&#x017F;tem der Naturlehre.</p>
            <p>Daher i&#x017F;t auch die Kenntniß der Naturge&#x017F;etze noch nicht Kenntniß der wirkenden Ur&#x017F;achen und des Mechani&#x017F;mus, durch den die Pha&#x0364;nomene in der That hervorgebracht werden. Die Ge&#x017F;etze lehren nur, <hi rendition="#b">was ge&#x017F;chehe,</hi> nicht <hi rendition="#b">wodurch</hi> und wie es ge&#x017F;chehe. So i&#x017F;t Ur&#x017F;ache und Mechanismus der Gravitation, der Mittheilung der Bewegung u. &#x017F;. w. ga&#x0364;nzlich unbekannt, ob wir gleich die Ge&#x017F;etze die&#x017F;er Pha&#x0364;nomene &#x017F;ehr wohl kennen. Eben dies i&#x017F;t der Fall bey den mei&#x017F;ten phy&#x017F;ikali&#x017F;chen Gegen&#x017F;ta&#x0364;nden. Zum Glu&#x0364;ck i&#x017F;t die Kenntniß der Ge&#x017F;etze fu&#x0364;r den prakti&#x017F;chen Gebrauch bey weitem nu&#x0364;tzlicher, als die Kenntniß der Ur&#x017F;achen, welche &#x017F;ehr o&#x017F;t blos zu Befriedigung der Wißbegierde dient; bisweilen hat aber auch die genaue Be&#x017F;timmung der Ge&#x017F;etze auf die Entdeckung der Ur&#x017F;achen geleitet.</p>
            <p>Wenn die &#x017F;chola&#x017F;ti&#x017F;chen Phy&#x017F;iker die Pha&#x0364;noment des Saugens und der Spritzen aus einem <hi rendition="#b">Ab&#x017F;cheu der Natur gegen die Leere</hi> erkla&#x0364;rten, &#x017F;o lag darunter eigentlich der allgemeine Satz verborgen: Im Luftkrei&#x017F;e werden die Ko&#x0364;rper gegen jeden luftleeren Raum nach allen Seiten zu getrieben. Die&#x017F;en wahren Erfahrungs&#x017F;atz kleidete man irrig &#x017F;o ein, daß er die Kenntniß einer Ur&#x017F;ache zu enthalten &#x017F;chien,<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[324/0330] Naturgeſetzen, und es laſſen ſich ihm unzaͤhlbare Phaͤnomene unterorduen, und wieder aus ihm herleiten. Die vornehmſten Naturgeſetze ſind in dieſem Woͤrterbuche an der Stelle, die dem Worte: Geſetze gehoͤrt (Th. II. S. 465 u. f.) namentlich angefuͤhrt, mit Verweiſung auf die Artikel, welche von jedem derſelben ausfuͤhrlichere Nachricht geben. Alle dieſe Geſetze gruͤnden ſich auf Erfahrung, und was man aus ihnen ſchließt oder herleitet, iſt auf Induction gebaut. Man ſchließt nemlich, was in allen bekannten Faͤllen erfolgt ſey, werde oder muͤſſe in eben dieſen Faͤllen allezeit wieder erfolgen. So ſind die Naturgeſetze eigentlich Sammlungen von Erfahrungen, die man blos der Erleichterung und guten Methode wegen in allgemeine Saͤtze zuſammenfaßt — wirklich ſind in der Natur nur die einzelnen Wirkungen vorhanden, die Geſetze eriſtiren blos in den Ideen der Naturforſcher, oder in dem Syſtem der Naturlehre. Daher iſt auch die Kenntniß der Naturgeſetze noch nicht Kenntniß der wirkenden Urſachen und des Mechaniſmus, durch den die Phaͤnomene in der That hervorgebracht werden. Die Geſetze lehren nur, was geſchehe, nicht wodurch und wie es geſchehe. So iſt Urſache und Mechanismus der Gravitation, der Mittheilung der Bewegung u. ſ. w. gaͤnzlich unbekannt, ob wir gleich die Geſetze dieſer Phaͤnomene ſehr wohl kennen. Eben dies iſt der Fall bey den meiſten phyſikaliſchen Gegenſtaͤnden. Zum Gluͤck iſt die Kenntniß der Geſetze fuͤr den praktiſchen Gebrauch bey weitem nuͤtzlicher, als die Kenntniß der Urſachen, welche ſehr oſt blos zu Befriedigung der Wißbegierde dient; bisweilen hat aber auch die genaue Beſtimmung der Geſetze auf die Entdeckung der Urſachen geleitet. Wenn die ſcholaſtiſchen Phyſiker die Phaͤnoment des Saugens und der Spritzen aus einem Abſcheu der Natur gegen die Leere erklaͤrten, ſo lag darunter eigentlich der allgemeine Satz verborgen: Im Luftkreiſe werden die Koͤrper gegen jeden luftleeren Raum nach allen Seiten zu getrieben. Dieſen wahren Erfahrungsſatz kleidete man irrig ſo ein, daß er die Kenntniß einer Urſache zu enthalten ſchien,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Bibliothek des Max-Planck-Instituts für Wissenschaftsgeschichte : Bereitstellung der Texttranskription. (2015-09-02T12:13:09Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Matthias Boenig: Bearbeitung der digitalen Edition. (2015-09-02T12:13:09Z)

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: keine Angabe; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): keine Angabe; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: keine Angabe; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine Angabe; rundes r (&#xa75b;): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: keine Angabe; Zeichensetzung: keine Angabe; Zeilenumbrüche markiert: nein;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/gehler_woerterbuch03_1798
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/gehler_woerterbuch03_1798/330
Zitationshilfe: Gehler, Johann Samuel Traugott: Physikalisches Wörterbuch, oder, Versuch einer Erklärung der vornehmsten Begriffe und Kunstwörter der Naturlehre. Bd. 3. Leipzig, 1798, S. 324. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gehler_woerterbuch03_1798/330>, abgerufen am 22.11.2024.