Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Gehler, Johann Samuel Traugott: Physikalisches Wörterbuch, oder, Versuch einer Erklärung der vornehmsten Begriffe und Kunstwörter der Naturlehre. Bd. 3. Leipzig, 1798.

Bild:
<< vorherige Seite


er belehrt uns auch, daß die Theile der Materie auf uns und auf einander selbst, auch wir auf sie, wirken, daß diese Wirkungen in Bewegung oder in Streben nach Bewegung bestehen, daß dies Ursachen, die wir Kräfte nennen, voraussetze u. s. w. Wir bemerken zugleich, daß die Thätigkeiten und Zustände unsers eignen Selbst den Ideen, die wir von außen her durch die Materie empfangen, durchaus unähnlich sind, und nach ganz andern Gesetzen erfolgen. Daher nennen wir unser Selbst einen Geist, unterscheiden die Materie von uns, und von dem Selbst anderer Menschen, die eben dasselbe Gefühl von Geistigkeit offenbaren, und theilen so die ganze Welt in geistige und materielle Dinge ein. Die Physik, welche blos die Eigenschaften, Erscheinungen und Gesetze des Materiellen nach dem allgemeinen sinnlichen Scheine untersucht, überläßt zwar alle Fragen über das wahre Wesen der Materie, über ihren Unterschied von den geistigen Dingen, die Art ihrer Einwirkung auf den Geist, die Natur der Kräfte u. s. w. der Metaphysik. Da doch aber die Materie einmal den Gegenstand der Physik ausmacht, so wird es nicht ganz unschicklich seyn, etwas von den Vorstellungen anzuführen, welche sich die Weltweisen von dem Wesen derselben und von der wahren Beschaffenheit der Körperwelt gemacht haben.

Die Meinungen der ältesten Philosophen scheinen dahin gegangen zu seyn, daß die materielle Welt aus Theilen bestehe, in welchen lebendige und seelenartige Kräfte wohnten, die man als Theile und Ausflüsse eines allgemeinen Weltgeistes betrachtete. Darinn vereinigen sich die Behauptungen der meisten philosophischen Schulen Griechenlands. Sie erkannten die Materie für etwas aus Theilen Zusammengesetztes, und nannten die Kräfte, die sie diesen Theilen zuschrieben, [fremdsprachliches Material], welches Wort Cicero (Quaest. Acad. I. 7. und De nat. Deor. II. 37.) durch qualitates übersetzt hat. Man wird sich hieraus den Ursprung der in der scholastischen Philosophie so häufig vorkommenden verborgnen Qualitäten, z. B. der Furcht für der Leere, des Bildungstriebes, und anderer der Natur beygelegten Neigungen, erklären können. Inzwischen stellte man sich diese


er belehrt uns auch, daß die Theile der Materie auf uns und auf einander ſelbſt, auch wir auf ſie, wirken, daß dieſe Wirkungen in Bewegung oder in Streben nach Bewegung beſtehen, daß dies Urſachen, die wir Kraͤfte nennen, vorausſetze u. ſ. w. Wir bemerken zugleich, daß die Thaͤtigkeiten und Zuſtaͤnde unſers eignen Selbſt den Ideen, die wir von außen her durch die Materie empfangen, durchaus unaͤhnlich ſind, und nach ganz andern Geſetzen erfolgen. Daher nennen wir unſer Selbſt einen Geiſt, unterſcheiden die Materie von uns, und von dem Selbſt anderer Menſchen, die eben daſſelbe Gefuͤhl von Geiſtigkeit offenbaren, und theilen ſo die ganze Welt in geiſtige und materielle Dinge ein. Die Phyſik, welche blos die Eigenſchaften, Erſcheinungen und Geſetze des Materiellen nach dem allgemeinen ſinnlichen Scheine unterſucht, uͤberlaͤßt zwar alle Fragen uͤber das wahre Weſen der Materie, uͤber ihren Unterſchied von den geiſtigen Dingen, die Art ihrer Einwirkung auf den Geiſt, die Natur der Kraͤfte u. ſ. w. der Metaphyſik. Da doch aber die Materie einmal den Gegenſtand der Phyſik ausmacht, ſo wird es nicht ganz unſchicklich ſeyn, etwas von den Vorſtellungen anzufuͤhren, welche ſich die Weltweiſen von dem Weſen derſelben und von der wahren Beſchaffenheit der Koͤrperwelt gemacht haben.

Die Meinungen der aͤlteſten Philoſophen ſcheinen dahin gegangen zu ſeyn, daß die materielle Welt aus Theilen beſtehe, in welchen lebendige und ſeelenartige Kraͤfte wohnten, die man als Theile und Ausfluͤſſe eines allgemeinen Weltgeiſtes betrachtete. Darinn vereinigen ſich die Behauptungen der meiſten philoſophiſchen Schulen Griechenlands. Sie erkannten die Materie fuͤr etwas aus Theilen Zuſammengeſetztes, und nannten die Kraͤfte, die ſie dieſen Theilen zuſchrieben, [fremdsprachliches Material], welches Wort Cicero (Quaeſt. Acad. I. 7. und De nat. Deor. II. 37.) durch qualitates uͤberſetzt hat. Man wird ſich hieraus den Urſprung der in der ſcholaſtiſchen Philoſophie ſo haͤufig vorkommenden verborgnen Qualitaͤten, z. B. der Furcht fuͤr der Leere, des Bildungstriebes, und anderer der Natur beygelegten Neigungen, erklaͤren koͤnnen. Inzwiſchen ſtellte man ſich dieſe

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0153" xml:id="P.3.147" n="147"/><lb/>
er belehrt uns auch, daß die Theile der Materie auf uns und auf einander &#x017F;elb&#x017F;t, auch wir auf &#x017F;ie, wirken, daß die&#x017F;e Wirkungen in Bewegung oder in Streben nach Bewegung be&#x017F;tehen, daß dies Ur&#x017F;achen, die wir Kra&#x0364;fte nennen, voraus&#x017F;etze u. &#x017F;. w. Wir bemerken zugleich, daß die Tha&#x0364;tigkeiten und Zu&#x017F;ta&#x0364;nde un&#x017F;ers eignen Selb&#x017F;t den Ideen, die wir von außen her durch die Materie empfangen, durchaus una&#x0364;hnlich &#x017F;ind, und nach ganz andern Ge&#x017F;etzen erfolgen. Daher nennen wir un&#x017F;er Selb&#x017F;t einen Gei&#x017F;t, unter&#x017F;cheiden die Materie von uns, und von dem Selb&#x017F;t anderer Men&#x017F;chen, die eben da&#x017F;&#x017F;elbe Gefu&#x0364;hl von Gei&#x017F;tigkeit offenbaren, und theilen &#x017F;o die ganze Welt in gei&#x017F;tige und materielle Dinge ein. Die Phy&#x017F;ik, welche blos die Eigen&#x017F;chaften, Er&#x017F;cheinungen und Ge&#x017F;etze des Materiellen nach dem allgemeinen &#x017F;innlichen Scheine unter&#x017F;ucht, u&#x0364;berla&#x0364;ßt zwar alle Fragen u&#x0364;ber das wahre We&#x017F;en der Materie, u&#x0364;ber ihren Unter&#x017F;chied von den gei&#x017F;tigen Dingen, die Art ihrer Einwirkung auf den Gei&#x017F;t, die Natur der Kra&#x0364;fte u. &#x017F;. w. der Metaphy&#x017F;ik. Da doch aber die Materie einmal den Gegen&#x017F;tand der Phy&#x017F;ik ausmacht, &#x017F;o wird es nicht ganz un&#x017F;chicklich &#x017F;eyn, etwas von den Vor&#x017F;tellungen anzufu&#x0364;hren, welche &#x017F;ich die Weltwei&#x017F;en von dem We&#x017F;en der&#x017F;elben und von der wahren Be&#x017F;chaffenheit der Ko&#x0364;rperwelt gemacht haben.</p>
            <p>Die Meinungen der a&#x0364;lte&#x017F;ten Philo&#x017F;ophen &#x017F;cheinen dahin gegangen zu &#x017F;eyn, daß die materielle Welt aus Theilen be&#x017F;tehe, in welchen lebendige und &#x017F;eelenartige Kra&#x0364;fte wohnten, die man als Theile und Ausflu&#x0364;&#x017F;&#x017F;e eines allgemeinen Weltgei&#x017F;tes betrachtete. Darinn vereinigen &#x017F;ich die Behauptungen der mei&#x017F;ten philo&#x017F;ophi&#x017F;chen Schulen Griechenlands. Sie erkannten die Materie fu&#x0364;r etwas aus Theilen Zu&#x017F;ammenge&#x017F;etztes, und nannten die Kra&#x0364;fte, die &#x017F;ie die&#x017F;en Theilen zu&#x017F;chrieben, <foreign xml:lang="grc"><gap reason="fm"/><note type="editorial">*poiothtas</note></foreign>, welches Wort <hi rendition="#b">Cicero</hi> <hi rendition="#aq">(Quae&#x017F;t. Acad. I. 7.</hi> und <hi rendition="#aq">De nat. Deor. II. 37.)</hi> durch <hi rendition="#aq">qualitates</hi> u&#x0364;ber&#x017F;etzt hat. Man wird &#x017F;ich hieraus den Ur&#x017F;prung der in der &#x017F;chola&#x017F;ti&#x017F;chen Philo&#x017F;ophie &#x017F;o ha&#x0364;ufig vorkommenden verborgnen Qualita&#x0364;ten, z. B. der Furcht fu&#x0364;r der Leere, des Bildungstriebes, und anderer der Natur beygelegten Neigungen, erkla&#x0364;ren ko&#x0364;nnen. Inzwi&#x017F;chen &#x017F;tellte man &#x017F;ich die&#x017F;e<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[147/0153] er belehrt uns auch, daß die Theile der Materie auf uns und auf einander ſelbſt, auch wir auf ſie, wirken, daß dieſe Wirkungen in Bewegung oder in Streben nach Bewegung beſtehen, daß dies Urſachen, die wir Kraͤfte nennen, vorausſetze u. ſ. w. Wir bemerken zugleich, daß die Thaͤtigkeiten und Zuſtaͤnde unſers eignen Selbſt den Ideen, die wir von außen her durch die Materie empfangen, durchaus unaͤhnlich ſind, und nach ganz andern Geſetzen erfolgen. Daher nennen wir unſer Selbſt einen Geiſt, unterſcheiden die Materie von uns, und von dem Selbſt anderer Menſchen, die eben daſſelbe Gefuͤhl von Geiſtigkeit offenbaren, und theilen ſo die ganze Welt in geiſtige und materielle Dinge ein. Die Phyſik, welche blos die Eigenſchaften, Erſcheinungen und Geſetze des Materiellen nach dem allgemeinen ſinnlichen Scheine unterſucht, uͤberlaͤßt zwar alle Fragen uͤber das wahre Weſen der Materie, uͤber ihren Unterſchied von den geiſtigen Dingen, die Art ihrer Einwirkung auf den Geiſt, die Natur der Kraͤfte u. ſ. w. der Metaphyſik. Da doch aber die Materie einmal den Gegenſtand der Phyſik ausmacht, ſo wird es nicht ganz unſchicklich ſeyn, etwas von den Vorſtellungen anzufuͤhren, welche ſich die Weltweiſen von dem Weſen derſelben und von der wahren Beſchaffenheit der Koͤrperwelt gemacht haben. Die Meinungen der aͤlteſten Philoſophen ſcheinen dahin gegangen zu ſeyn, daß die materielle Welt aus Theilen beſtehe, in welchen lebendige und ſeelenartige Kraͤfte wohnten, die man als Theile und Ausfluͤſſe eines allgemeinen Weltgeiſtes betrachtete. Darinn vereinigen ſich die Behauptungen der meiſten philoſophiſchen Schulen Griechenlands. Sie erkannten die Materie fuͤr etwas aus Theilen Zuſammengeſetztes, und nannten die Kraͤfte, die ſie dieſen Theilen zuſchrieben, _ , welches Wort Cicero (Quaeſt. Acad. I. 7. und De nat. Deor. II. 37.) durch qualitates uͤberſetzt hat. Man wird ſich hieraus den Urſprung der in der ſcholaſtiſchen Philoſophie ſo haͤufig vorkommenden verborgnen Qualitaͤten, z. B. der Furcht fuͤr der Leere, des Bildungstriebes, und anderer der Natur beygelegten Neigungen, erklaͤren koͤnnen. Inzwiſchen ſtellte man ſich dieſe

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Bibliothek des Max-Planck-Instituts für Wissenschaftsgeschichte : Bereitstellung der Texttranskription. (2015-09-02T12:13:09Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Matthias Boenig: Bearbeitung der digitalen Edition. (2015-09-02T12:13:09Z)

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: keine Angabe; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): keine Angabe; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: keine Angabe; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine Angabe; rundes r (&#xa75b;): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: keine Angabe; Zeichensetzung: keine Angabe; Zeilenumbrüche markiert: nein;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/gehler_woerterbuch03_1798
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/gehler_woerterbuch03_1798/153
Zitationshilfe: Gehler, Johann Samuel Traugott: Physikalisches Wörterbuch, oder, Versuch einer Erklärung der vornehmsten Begriffe und Kunstwörter der Naturlehre. Bd. 3. Leipzig, 1798, S. 147. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gehler_woerterbuch03_1798/153>, abgerufen am 25.11.2024.