Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Gehler, Johann Samuel Traugott: Physikalisches Wörterbuch, oder, Versuch einer Erklärung der vornehmsten Begriffe und Kunstwörter der Naturlehre. Bd. 2. Leipzig, 1798.

Bild:
<< vorherige Seite


fast zu gleicher Zeit erreichten, wenn nur ihre Materien nicht allzusehr an Dichtigkeit verschieden waren. Diese Versuche machten großes Aufsehen, und zogen ihrem Urheber so viel Feinde zu, daß er sich bewogen fand, Pisa zu verlassen und die ihm angetragne Lehrstelle in Padua anzunehmen. In der Folge hat er diesen Satz unter andern auch durch den Versuch mit zwey Pendeln von gleicher Länge erwiesen, welche ihre Schwingungen mit einerley Geschwindigkeit verrichten, ob sie gleich mit verschiedenen Gewichten beschweret sind.

Eben so unrichtig waren die ehemaligen Vorstellungen von der Beschleunigung des Falles. Man hatte dieses Phänomen aus mancherley Ursachen hergeleitet, und nach mancherley Gesetzen erfolgen lassen. Die Peripatetiker sahen die Schwere als eine verborgene Qualität an, schrieben allen Körpern ein inneres Bestreben nach dem Mittelpunkte zu, und glaubten, sie eilten desto schneller nach demselben, je näher sie ihm kämen. Einige unter ihnen nahmen die Luft zu Hülfe, welche durch ihr Zusammenfahren hinter dem fallenden Körper denselben nach Art eines Keils fortstoßen, und dadurch seine Bewegung von Zeit zu Zeit beschleunigen sollte. Dieser Ursache hatte Aristoteles selbst die Fortdauer aller Bewegungen zugeschrieben. Noch andere erklärten den Fall aus dem Drucke der Luft, und die Beschleunigung daraus, daß der Körper von desto höhern Luftsäulen gedrückt werde, je tiefer er herabkomme, oder daß die Luftsäulen lauter nach dem Mittelpunkte convergirende Linien wären, daher der Mittelpunkt den ganzen Druck der flüßigen Masse zu tragen habe, und ein Körper desto stärker gedrückt werde, je näher er dem Mittelpunkte komme.

Was die Gesetze der Beschleunigung betrift, so war es die gemeine Meinung, daß die Geschwindigkeit in dem Verhältnisse des zurückgelegten Raumes zunehme; daß nemlich der Körper, wenn er durch vier Fuß gefallen sey, viermal so viel Geschwindigkeit erlangt habe, als am Ende des ersten Fußes -- eine Meinung, die auf den ersten Blick ganz einfach und natürlich scheint, in der That aber etwas Unmögliches


faſt zu gleicher Zeit erreichten, wenn nur ihre Materien nicht allzuſehr an Dichtigkeit verſchieden waren. Dieſe Verſuche machten großes Aufſehen, und zogen ihrem Urheber ſo viel Feinde zu, daß er ſich bewogen fand, Piſa zu verlaſſen und die ihm angetragne Lehrſtelle in Padua anzunehmen. In der Folge hat er dieſen Satz unter andern auch durch den Verſuch mit zwey Pendeln von gleicher Laͤnge erwieſen, welche ihre Schwingungen mit einerley Geſchwindigkeit verrichten, ob ſie gleich mit verſchiedenen Gewichten beſchweret ſind.

Eben ſo unrichtig waren die ehemaligen Vorſtellungen von der Beſchleunigung des Falles. Man hatte dieſes Phaͤnomen aus mancherley Urſachen hergeleitet, und nach mancherley Geſetzen erfolgen laſſen. Die Peripatetiker ſahen die Schwere als eine verborgene Qualitaͤt an, ſchrieben allen Koͤrpern ein inneres Beſtreben nach dem Mittelpunkte zu, und glaubten, ſie eilten deſto ſchneller nach demſelben, je naͤher ſie ihm kaͤmen. Einige unter ihnen nahmen die Luft zu Huͤlfe, welche durch ihr Zuſammenfahren hinter dem fallenden Koͤrper denſelben nach Art eines Keils fortſtoßen, und dadurch ſeine Bewegung von Zeit zu Zeit beſchleunigen ſollte. Dieſer Urſache hatte Ariſtoteles ſelbſt die Fortdauer aller Bewegungen zugeſchrieben. Noch andere erklaͤrten den Fall aus dem Drucke der Luft, und die Beſchleunigung daraus, daß der Koͤrper von deſto hoͤhern Luftſaͤulen gedruͤckt werde, je tiefer er herabkomme, oder daß die Luftſaͤulen lauter nach dem Mittelpunkte convergirende Linien waͤren, daher der Mittelpunkt den ganzen Druck der fluͤßigen Maſſe zu tragen habe, und ein Koͤrper deſto ſtaͤrker gedruͤckt werde, je naͤher er dem Mittelpunkte komme.

Was die Geſetze der Beſchleunigung betrift, ſo war es die gemeine Meinung, daß die Geſchwindigkeit in dem Verhaͤltniſſe des zuruͤckgelegten Raumes zunehme; daß nemlich der Koͤrper, wenn er durch vier Fuß gefallen ſey, viermal ſo viel Geſchwindigkeit erlangt habe, als am Ende des erſten Fußes — eine Meinung, die auf den erſten Blick ganz einfach und natuͤrlich ſcheint, in der That aber etwas Unmoͤgliches

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="2">
            <p><pb facs="#f0125" xml:id="P.2.119" n="119"/><lb/>
fa&#x017F;t zu gleicher Zeit erreichten, wenn nur ihre Materien nicht allzu&#x017F;ehr an Dichtigkeit ver&#x017F;chieden waren. Die&#x017F;e Ver&#x017F;uche machten großes Auf&#x017F;ehen, und zogen ihrem Urheber &#x017F;o viel Feinde zu, daß er &#x017F;ich bewogen fand, Pi&#x017F;a zu verla&#x017F;&#x017F;en und die ihm angetragne Lehr&#x017F;telle in Padua anzunehmen. In der Folge hat er die&#x017F;en Satz unter andern auch durch den Ver&#x017F;uch mit zwey Pendeln von gleicher La&#x0364;nge erwie&#x017F;en, welche ihre Schwingungen mit einerley Ge&#x017F;chwindigkeit verrichten, ob &#x017F;ie gleich mit ver&#x017F;chiedenen Gewichten be&#x017F;chweret &#x017F;ind.</p>
            <p>Eben &#x017F;o unrichtig waren die ehemaligen Vor&#x017F;tellungen von der Be&#x017F;chleunigung des Falles. Man hatte die&#x017F;es Pha&#x0364;nomen aus mancherley Ur&#x017F;achen hergeleitet, und nach mancherley Ge&#x017F;etzen erfolgen la&#x017F;&#x017F;en. Die Peripatetiker &#x017F;ahen die Schwere als eine verborgene Qualita&#x0364;t an, &#x017F;chrieben allen Ko&#x0364;rpern ein inneres Be&#x017F;treben nach dem Mittelpunkte zu, und glaubten, &#x017F;ie eilten de&#x017F;to &#x017F;chneller nach dem&#x017F;elben, je na&#x0364;her &#x017F;ie ihm ka&#x0364;men. Einige unter ihnen nahmen die Luft zu Hu&#x0364;lfe, welche durch ihr Zu&#x017F;ammenfahren hinter dem fallenden Ko&#x0364;rper den&#x017F;elben nach Art eines Keils fort&#x017F;toßen, und dadurch &#x017F;eine Bewegung von Zeit zu Zeit be&#x017F;chleunigen &#x017F;ollte. Die&#x017F;er Ur&#x017F;ache hatte <hi rendition="#b">Ari&#x017F;toteles</hi> &#x017F;elb&#x017F;t die Fortdauer aller Bewegungen zuge&#x017F;chrieben. Noch andere erkla&#x0364;rten den Fall aus dem Drucke der Luft, und die Be&#x017F;chleunigung daraus, daß der Ko&#x0364;rper von de&#x017F;to ho&#x0364;hern Luft&#x017F;a&#x0364;ulen gedru&#x0364;ckt werde, je tiefer er herabkomme, oder daß die Luft&#x017F;a&#x0364;ulen lauter nach dem Mittelpunkte convergirende Linien wa&#x0364;ren, daher der Mittelpunkt den ganzen Druck der flu&#x0364;ßigen Ma&#x017F;&#x017F;e zu tragen habe, und ein Ko&#x0364;rper de&#x017F;to &#x017F;ta&#x0364;rker gedru&#x0364;ckt werde, je na&#x0364;her er dem Mittelpunkte komme.</p>
            <p>Was die Ge&#x017F;etze der Be&#x017F;chleunigung betrift, &#x017F;o war es die gemeine Meinung, daß die Ge&#x017F;chwindigkeit in dem Verha&#x0364;ltni&#x017F;&#x017F;e des zuru&#x0364;ckgelegten Raumes zunehme; daß nemlich der Ko&#x0364;rper, wenn er durch vier Fuß gefallen &#x017F;ey, viermal &#x017F;o viel Ge&#x017F;chwindigkeit erlangt habe, als am Ende des er&#x017F;ten Fußes &#x2014; eine Meinung, die auf den er&#x017F;ten Blick ganz einfach und natu&#x0364;rlich &#x017F;cheint, in der That aber etwas Unmo&#x0364;gliches<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[119/0125] faſt zu gleicher Zeit erreichten, wenn nur ihre Materien nicht allzuſehr an Dichtigkeit verſchieden waren. Dieſe Verſuche machten großes Aufſehen, und zogen ihrem Urheber ſo viel Feinde zu, daß er ſich bewogen fand, Piſa zu verlaſſen und die ihm angetragne Lehrſtelle in Padua anzunehmen. In der Folge hat er dieſen Satz unter andern auch durch den Verſuch mit zwey Pendeln von gleicher Laͤnge erwieſen, welche ihre Schwingungen mit einerley Geſchwindigkeit verrichten, ob ſie gleich mit verſchiedenen Gewichten beſchweret ſind. Eben ſo unrichtig waren die ehemaligen Vorſtellungen von der Beſchleunigung des Falles. Man hatte dieſes Phaͤnomen aus mancherley Urſachen hergeleitet, und nach mancherley Geſetzen erfolgen laſſen. Die Peripatetiker ſahen die Schwere als eine verborgene Qualitaͤt an, ſchrieben allen Koͤrpern ein inneres Beſtreben nach dem Mittelpunkte zu, und glaubten, ſie eilten deſto ſchneller nach demſelben, je naͤher ſie ihm kaͤmen. Einige unter ihnen nahmen die Luft zu Huͤlfe, welche durch ihr Zuſammenfahren hinter dem fallenden Koͤrper denſelben nach Art eines Keils fortſtoßen, und dadurch ſeine Bewegung von Zeit zu Zeit beſchleunigen ſollte. Dieſer Urſache hatte Ariſtoteles ſelbſt die Fortdauer aller Bewegungen zugeſchrieben. Noch andere erklaͤrten den Fall aus dem Drucke der Luft, und die Beſchleunigung daraus, daß der Koͤrper von deſto hoͤhern Luftſaͤulen gedruͤckt werde, je tiefer er herabkomme, oder daß die Luftſaͤulen lauter nach dem Mittelpunkte convergirende Linien waͤren, daher der Mittelpunkt den ganzen Druck der fluͤßigen Maſſe zu tragen habe, und ein Koͤrper deſto ſtaͤrker gedruͤckt werde, je naͤher er dem Mittelpunkte komme. Was die Geſetze der Beſchleunigung betrift, ſo war es die gemeine Meinung, daß die Geſchwindigkeit in dem Verhaͤltniſſe des zuruͤckgelegten Raumes zunehme; daß nemlich der Koͤrper, wenn er durch vier Fuß gefallen ſey, viermal ſo viel Geſchwindigkeit erlangt habe, als am Ende des erſten Fußes — eine Meinung, die auf den erſten Blick ganz einfach und natuͤrlich ſcheint, in der That aber etwas Unmoͤgliches

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Bibliothek des Max-Planck-Instituts für Wissenschaftsgeschichte : Bereitstellung der Texttranskription. (2015-09-02T12:13:09Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Matthias Boenig: Bearbeitung der digitalen Edition. (2015-09-02T12:13:09Z)

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: keine Angabe; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): keine Angabe; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: keine Angabe; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine Angabe; rundes r (&#xa75b;): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: keine Angabe; Zeichensetzung: keine Angabe; Zeilenumbrüche markiert: nein;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/gehler_woerterbuch02_1798
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/gehler_woerterbuch02_1798/125
Zitationshilfe: Gehler, Johann Samuel Traugott: Physikalisches Wörterbuch, oder, Versuch einer Erklärung der vornehmsten Begriffe und Kunstwörter der Naturlehre. Bd. 2. Leipzig, 1798, S. 119. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gehler_woerterbuch02_1798/125>, abgerufen am 28.04.2024.