Gehler, Johann Samuel Traugott: Physikalisches Wörterbuch, oder, Versuch einer Erklärung der vornehmsten Begriffe und Kunstwörter der Naturlehre. Bd. 1. Leipzig, 1798.
Ich werde nun noch die Umstände, durch welche das Urtheil der Seele über die Entfernungen bestimmt wird, so viel möglich, aufzählen, und die Meynungen der Optiker über die Mittel, Entfernungen zu schätzen, vortragen. Kepler (Paralip. ad Vitell. p. 62.) äußert schon den sehr richtigen Gedanken, die Entfernung der beyden Augen von einander sey gleichsam die Grundlinie, deren man sich zu Messung mittelmäßiger Entfernungen bediene. Wer nemlich einen Gegenstand betrachtet, richtet die Axen beyder Augen auf denselben, und es ist klar, daß er hiebey die Augen mehr einwärts wenden und mehr zusammenlenken muß, wenn der Gegenstand näher, als wenn er entfernter ist. Die Erfahrung hat uns gelehrt, wie weit wir nach einem Gegenstande die Hand auszustrecken oder zu gehen haben, wenn, um ihn genau zu betrachten, diese oder jene bestimmte Zusammenlenkung der Augenaxen nöthig ist. Dies trägt allerdings etwas zu dem Urtheile über geringe Entfernungen bey: für größere aber ändert sich die Richtung der Augenaxen zu wenig, wenn sich gleich die Entfernung sehr stark ändert, und es kan also hieraus nichts mehr geschlossen werden. Um aber zu erklären, wie man auch mit einem Auge Entfernungen schätzen könne, setzt Kepler (ebend. p. 63. 65. 66.) hinzu, ein Auge lerne diese Art zu messen von beyden Augen, und so nehme man bey verhältnißmäßig kleinern Entfernungen die Breite des Augensterns zur Grundlinie an. Seine Meynung scheint nemlich diese zu seyn, daß der Ort, in welchen man einen Punkt setzt, dahin falle, wo sich die in beyde Augen kommenden Lichtstralen durchschneiden, und bey einem Auge dahin, wo sich die
Ich werde nun noch die Umſtaͤnde, durch welche das Urtheil der Seele uͤber die Entfernungen beſtimmt wird, ſo viel moͤglich, aufzaͤhlen, und die Meynungen der Optiker uͤber die Mittel, Entfernungen zu ſchaͤtzen, vortragen. Kepler (Paralip. ad Vitell. p. 62.) aͤußert ſchon den ſehr richtigen Gedanken, die Entfernung der beyden Augen von einander ſey gleichſam die Grundlinie, deren man ſich zu Meſſung mittelmaͤßiger Entfernungen bediene. Wer nemlich einen Gegenſtand betrachtet, richtet die Axen beyder Augen auf denſelben, und es iſt klar, daß er hiebey die Augen mehr einwaͤrts wenden und mehr zuſammenlenken muß, wenn der Gegenſtand naͤher, als wenn er entfernter iſt. Die Erfahrung hat uns gelehrt, wie weit wir nach einem Gegenſtande die Hand auszuſtrecken oder zu gehen haben, wenn, um ihn genau zu betrachten, dieſe oder jene beſtimmte Zuſammenlenkung der Augenaxen noͤthig iſt. Dies traͤgt allerdings etwas zu dem Urtheile uͤber geringe Entfernungen bey: fuͤr groͤßere aber aͤndert ſich die Richtung der Augenaxen zu wenig, wenn ſich gleich die Entfernung ſehr ſtark aͤndert, und es kan alſo hieraus nichts mehr geſchloſſen werden. Um aber zu erklaͤren, wie man auch mit einem Auge Entfernungen ſchaͤtzen koͤnne, ſetzt Kepler (ebend. p. 63. 65. 66.) hinzu, ein Auge lerne dieſe Art zu meſſen von beyden Augen, und ſo nehme man bey verhaͤltnißmaͤßig kleinern Entfernungen die Breite des Augenſterns zur Grundlinie an. Seine Meynung ſcheint nemlich dieſe zu ſeyn, daß der Ort, in welchen man einen Punkt ſetzt, dahin falle, wo ſich die in beyde Augen kommenden Lichtſtralen durchſchneiden, und bey einem Auge dahin, wo ſich die <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0856" xml:id="P.1.842" n="842"/><lb/> Schaͤtzung der Entfernungen ein Menſch mehr auf dieſen, ein andrer mehr auf jenen Umſtand ſieht, und uͤberhaupt nicht alle auf einerley Art und nach einerley Regeln urtheilen. Weil nun die Vorſtellung der Entfernung Einfluß auf die Vorſtellung der Groͤße hat, ſo entſteht daher die ungemeine Verſchiedenheit der Urtheile, welche die Menſchen dem Augenmaaße nach uͤber die Groͤßen entfernter Dinge faͤllen, <hi rendition="#b">ſ. Groͤße, ſcheinbare.</hi></p> <p>Ich werde nun noch die Umſtaͤnde, durch welche das Urtheil der Seele uͤber die Entfernungen beſtimmt wird, ſo viel moͤglich, aufzaͤhlen, und die Meynungen der Optiker uͤber die Mittel, Entfernungen zu ſchaͤtzen, vortragen.</p> <p><hi rendition="#b">Kepler</hi><hi rendition="#aq">(Paralip. ad Vitell. p. 62.)</hi> aͤußert ſchon den ſehr richtigen Gedanken, die Entfernung der beyden Augen von einander ſey gleichſam die Grundlinie, deren man ſich zu Meſſung mittelmaͤßiger Entfernungen bediene. Wer nemlich einen Gegenſtand betrachtet, richtet die Axen beyder Augen auf denſelben, und es iſt klar, daß er hiebey die Augen mehr einwaͤrts wenden und mehr zuſammenlenken muß, wenn der Gegenſtand naͤher, als wenn er entfernter iſt. Die Erfahrung hat uns gelehrt, wie weit wir nach einem Gegenſtande die Hand auszuſtrecken oder zu gehen haben, wenn, um ihn genau zu betrachten, dieſe oder jene beſtimmte Zuſammenlenkung der Augenaxen noͤthig iſt. Dies traͤgt allerdings etwas zu dem Urtheile uͤber geringe Entfernungen bey: fuͤr groͤßere aber aͤndert ſich die Richtung der Augenaxen zu wenig, wenn ſich gleich die Entfernung ſehr ſtark aͤndert, und es kan alſo hieraus nichts mehr geſchloſſen werden.</p> <p>Um aber zu erklaͤren, wie man auch mit einem Auge Entfernungen ſchaͤtzen koͤnne, ſetzt <hi rendition="#b">Kepler</hi> (ebend. <hi rendition="#aq">p. 63. 65. 66.)</hi> hinzu, ein Auge lerne dieſe Art zu meſſen von beyden Augen, und ſo nehme man bey verhaͤltnißmaͤßig kleinern Entfernungen die Breite des Augenſterns zur Grundlinie an. Seine Meynung ſcheint nemlich dieſe zu ſeyn, daß der Ort, in welchen man einen Punkt ſetzt, dahin falle, wo ſich die in beyde Augen kommenden Lichtſtralen durchſchneiden, und bey einem Auge dahin, wo ſich die<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [842/0856]
Schaͤtzung der Entfernungen ein Menſch mehr auf dieſen, ein andrer mehr auf jenen Umſtand ſieht, und uͤberhaupt nicht alle auf einerley Art und nach einerley Regeln urtheilen. Weil nun die Vorſtellung der Entfernung Einfluß auf die Vorſtellung der Groͤße hat, ſo entſteht daher die ungemeine Verſchiedenheit der Urtheile, welche die Menſchen dem Augenmaaße nach uͤber die Groͤßen entfernter Dinge faͤllen, ſ. Groͤße, ſcheinbare.
Ich werde nun noch die Umſtaͤnde, durch welche das Urtheil der Seele uͤber die Entfernungen beſtimmt wird, ſo viel moͤglich, aufzaͤhlen, und die Meynungen der Optiker uͤber die Mittel, Entfernungen zu ſchaͤtzen, vortragen.
Kepler (Paralip. ad Vitell. p. 62.) aͤußert ſchon den ſehr richtigen Gedanken, die Entfernung der beyden Augen von einander ſey gleichſam die Grundlinie, deren man ſich zu Meſſung mittelmaͤßiger Entfernungen bediene. Wer nemlich einen Gegenſtand betrachtet, richtet die Axen beyder Augen auf denſelben, und es iſt klar, daß er hiebey die Augen mehr einwaͤrts wenden und mehr zuſammenlenken muß, wenn der Gegenſtand naͤher, als wenn er entfernter iſt. Die Erfahrung hat uns gelehrt, wie weit wir nach einem Gegenſtande die Hand auszuſtrecken oder zu gehen haben, wenn, um ihn genau zu betrachten, dieſe oder jene beſtimmte Zuſammenlenkung der Augenaxen noͤthig iſt. Dies traͤgt allerdings etwas zu dem Urtheile uͤber geringe Entfernungen bey: fuͤr groͤßere aber aͤndert ſich die Richtung der Augenaxen zu wenig, wenn ſich gleich die Entfernung ſehr ſtark aͤndert, und es kan alſo hieraus nichts mehr geſchloſſen werden.
Um aber zu erklaͤren, wie man auch mit einem Auge Entfernungen ſchaͤtzen koͤnne, ſetzt Kepler (ebend. p. 63. 65. 66.) hinzu, ein Auge lerne dieſe Art zu meſſen von beyden Augen, und ſo nehme man bey verhaͤltnißmaͤßig kleinern Entfernungen die Breite des Augenſterns zur Grundlinie an. Seine Meynung ſcheint nemlich dieſe zu ſeyn, daß der Ort, in welchen man einen Punkt ſetzt, dahin falle, wo ſich die in beyde Augen kommenden Lichtſtralen durchſchneiden, und bey einem Auge dahin, wo ſich die
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