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Gehler, Johann Samuel Traugott: Physikalisches Wörterbuch, oder, Versuch einer Erklärung der vornehmsten Begriffe und Kunstwörter der Naturlehre. Bd. 1. Leipzig, 1798.

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sich die Lage zweener Gegenstände gegen einander, und glauben wir aus andern Erfahrungen den einen dieser Gegenstände ruhend, so schreiben wir dem andern Bewegung zu. So legt man der Sonne eine Bewegung bey, weil sie ihre Lage gegen den ruhend scheinenden Horizont ändert; ein Kind auf einem Kahne glaubt die Bäume am Ufer bewegt zu sehen, weil es sich selbst beym stillen Fortgange des Kahns für ruhend hält, und also die veränderte Lage der Bäume gegen sein Auge für Bewegung derselben nimmt. Bey Wahrnehmung veränderter Lagen der Körper muß also vorher ausgemacht werden, welcher Körper der ruhende sey, ehe man wissen kan, welcher der bewegte ist. In vielen Fällen ist dies leicht zu bestimmen, in andern schwerer; Täuschungen dieser Art haben die Verbreitung und Erweiterung der nützlichsten Wahrheiten Jahrtausende lang verhindert.

Bey Bewegungen, welche man als wirkliche erkennt, hat man folgende Umstände in Betrachtung zu ziehen: 1) die Ursache der Bewegung, 2) die bewegte Masse, 3) die Richtung der Bewegung, 4) den zurückgelegten Weg oder Raum, 5) die Zeit, 6) die Geschwindigkeit, und 7) die Größe der Bewegung.

1) Die Ursachen der Entstehung und Aenderung der Bewegungen liegen in eine tiefe Dunkelheit verhüllt. Daß Bewegung aus Ruhe nicht ohne Ursache entstehen, auch eine Bewegung in eine andere nicht ohne Ursache übergehen könne, ist klar, sobald man bedenkt, daß Ruhe und Bewegungen verschiedner Art verschiedne Zustände des Körpers sind, deren einen er mit dem andern nicht ohne Grund vertauschen kan, s. Trägheit. Dies stimmt auch mit der Erfahrung überein; wenigsrens nehmen wir bey den meisten Bewegungen und ihren Aenderungen gewisse unverkennbare Ursachen derselben wahr, ob wir gleich die Natur derselben nicht kennen, und nicht wissen, wie sie Bewegung hervorbringen und ändern. Eine der vornehmsten dieser Ursachen, und die unserm Beobachtungskreise am nächsten liegt, ist die Kraft der Menschen und Thiere. Wir bewegen durch freywilligen


ſich die Lage zweener Gegenſtaͤnde gegen einander, und glauben wir aus andern Erfahrungen den einen dieſer Gegenſtaͤnde ruhend, ſo ſchreiben wir dem andern Bewegung zu. So legt man der Sonne eine Bewegung bey, weil ſie ihre Lage gegen den ruhend ſcheinenden Horizont aͤndert; ein Kind auf einem Kahne glaubt die Baͤume am Ufer bewegt zu ſehen, weil es ſich ſelbſt beym ſtillen Fortgange des Kahns fuͤr ruhend haͤlt, und alſo die veraͤnderte Lage der Baͤume gegen ſein Auge fuͤr Bewegung derſelben nimmt. Bey Wahrnehmung veraͤnderter Lagen der Koͤrper muß alſo vorher ausgemacht werden, welcher Koͤrper der ruhende ſey, ehe man wiſſen kan, welcher der bewegte iſt. In vielen Faͤllen iſt dies leicht zu beſtimmen, in andern ſchwerer; Taͤuſchungen dieſer Art haben die Verbreitung und Erweiterung der nuͤtzlichſten Wahrheiten Jahrtauſende lang verhindert.

Bey Bewegungen, welche man als wirkliche erkennt, hat man folgende Umſtaͤnde in Betrachtung zu ziehen: 1) die Urſache der Bewegung, 2) die bewegte Maſſe, 3) die Richtung der Bewegung, 4) den zuruͤckgelegten Weg oder Raum, 5) die Zeit, 6) die Geſchwindigkeit, und 7) die Groͤße der Bewegung.

1) Die Urſachen der Entſtehung und Aenderung der Bewegungen liegen in eine tiefe Dunkelheit verhuͤllt. Daß Bewegung aus Ruhe nicht ohne Urſache entſtehen, auch eine Bewegung in eine andere nicht ohne Urſache uͤbergehen koͤnne, iſt klar, ſobald man bedenkt, daß Ruhe und Bewegungen verſchiedner Art verſchiedne Zuſtaͤnde des Koͤrpers ſind, deren einen er mit dem andern nicht ohne Grund vertauſchen kan, ſ. Traͤgheit. Dies ſtimmt auch mit der Erfahrung uͤberein; wenigſrens nehmen wir bey den meiſten Bewegungen und ihren Aenderungen gewiſſe unverkennbare Urſachen derſelben wahr, ob wir gleich die Natur derſelben nicht kennen, und nicht wiſſen, wie ſie Bewegung hervorbringen und aͤndern. Eine der vornehmſten dieſer Urſachen, und die unſerm Beobachtungskreiſe am naͤchſten liegt, iſt die Kraft der Menſchen und Thiere. Wir bewegen durch freywilligen

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[321/0335] ſich die Lage zweener Gegenſtaͤnde gegen einander, und glauben wir aus andern Erfahrungen den einen dieſer Gegenſtaͤnde ruhend, ſo ſchreiben wir dem andern Bewegung zu. So legt man der Sonne eine Bewegung bey, weil ſie ihre Lage gegen den ruhend ſcheinenden Horizont aͤndert; ein Kind auf einem Kahne glaubt die Baͤume am Ufer bewegt zu ſehen, weil es ſich ſelbſt beym ſtillen Fortgange des Kahns fuͤr ruhend haͤlt, und alſo die veraͤnderte Lage der Baͤume gegen ſein Auge fuͤr Bewegung derſelben nimmt. Bey Wahrnehmung veraͤnderter Lagen der Koͤrper muß alſo vorher ausgemacht werden, welcher Koͤrper der ruhende ſey, ehe man wiſſen kan, welcher der bewegte iſt. In vielen Faͤllen iſt dies leicht zu beſtimmen, in andern ſchwerer; Taͤuſchungen dieſer Art haben die Verbreitung und Erweiterung der nuͤtzlichſten Wahrheiten Jahrtauſende lang verhindert. Bey Bewegungen, welche man als wirkliche erkennt, hat man folgende Umſtaͤnde in Betrachtung zu ziehen: 1) die Urſache der Bewegung, 2) die bewegte Maſſe, 3) die Richtung der Bewegung, 4) den zuruͤckgelegten Weg oder Raum, 5) die Zeit, 6) die Geſchwindigkeit, und 7) die Groͤße der Bewegung. 1) Die Urſachen der Entſtehung und Aenderung der Bewegungen liegen in eine tiefe Dunkelheit verhuͤllt. Daß Bewegung aus Ruhe nicht ohne Urſache entſtehen, auch eine Bewegung in eine andere nicht ohne Urſache uͤbergehen koͤnne, iſt klar, ſobald man bedenkt, daß Ruhe und Bewegungen verſchiedner Art verſchiedne Zuſtaͤnde des Koͤrpers ſind, deren einen er mit dem andern nicht ohne Grund vertauſchen kan, ſ. Traͤgheit. Dies ſtimmt auch mit der Erfahrung uͤberein; wenigſrens nehmen wir bey den meiſten Bewegungen und ihren Aenderungen gewiſſe unverkennbare Urſachen derſelben wahr, ob wir gleich die Natur derſelben nicht kennen, und nicht wiſſen, wie ſie Bewegung hervorbringen und aͤndern. Eine der vornehmſten dieſer Urſachen, und die unſerm Beobachtungskreiſe am naͤchſten liegt, iſt die Kraft der Menſchen und Thiere. Wir bewegen durch freywilligen

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Zitationshilfe: Gehler, Johann Samuel Traugott: Physikalisches Wörterbuch, oder, Versuch einer Erklärung der vornehmsten Begriffe und Kunstwörter der Naturlehre. Bd. 1. Leipzig, 1798, S. 321. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gehler_woerterbuch01_1798/335>, abgerufen am 17.05.2024.