Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Gehler, Johann Samuel Traugott: Physikalisches Wörterbuch, oder, Versuch einer Erklärung der vornehmsten Begriffe und Kunstwörter der Naturlehre. Bd. 1. Leipzig, 1798.

Bild:
<< vorherige Seite


gestellte Auge so täuschen, daß es von den wahren Entfernungen der Punkte A, B, C, D, E, keine Eindrücke erhält, und daß daher die liegende Linie ABCDE eben so, wie eine stehende Abcde, von dem Zuschauer empfunden wird, so darf man nur die gleichen Theile eines regelmäßig gezeichneten Bildes Ab, bc, cd, de durch eine proportionirte Zeichnung in die ungleichen Theile AB, BC, CD, DE, ausdehnen. Wird nun die solchergestalt verzerrte Figur AE auf ein Bret gelegt, auf welchem ein anderes Bret PQ senkrecht steht, und vom Auge durch die Oefnung O betrachtet, so verliert der Zuschauer die Gegenstände aus dem Auge, die ihm einen Maaßstab der Entfernungen OE, OD, OC, rc. geben können. Es wirkt das verzerrte Bild AE jetzt nicht anders auf sein Auge, als das regelmäßige, in Ae aufgestellt, darauf wirken würde. Seine Einbildungskraft selbst wird geschäftig, sich eher ein regelmäßiges, als ein verzerrtes Bild darzustellen; er glaubt also eine in Ae aufgestellte richtige Zeichnung zu sehen. So hat man verzerrte Figuren, in welchen z. B. Kopf und Schultern durch ED ausgedehnt und ungeheuer groß, die übrigen Theile des Körpers von D bis A sehr klein sind, die sich aber, aus O betrachtet, ganz richtig darstellen. Nach Brisson (Dictionnaire raisonne de physique; Art. Anamorphose) sind an der Wand einer Gallerie im Minimenkloster an der Place royale in Paris verschiedene Bilder gemahlt, welche, aus einem gewissen Gesichtspunkte von der Seite her betrachtet, sehr deutlich eine reuige Magdalene darstellen.

Hieher gehören auch die Bilder, welche in Streifen zerschnitten und Streifenweis auf die Seitenflächen mehrerer neben einander stehenden dreyseitigen Prismen aufgeklebt werden, da man denn ein anderes Bild sieht, je nachdem man diese Prismen von der rechten oder linken Seite her betrachtet. Von diesen Bildern, die man oft in Kunstkabinetten antrift, handeln Schwenter (Mathematische Erquickstunden, Nürnb. 1651. 4. Th. I. S. 271.) und Wolf (Elementa Optices. Probl. 28.).


geſtellte Auge ſo taͤuſchen, daß es von den wahren Entfernungen der Punkte A, B, C, D, E, keine Eindruͤcke erhaͤlt, und daß daher die liegende Linie ABCDE eben ſo, wie eine ſtehende Abcde, von dem Zuſchauer empfunden wird, ſo darf man nur die gleichen Theile eines regelmaͤßig gezeichneten Bildes Ab, bc, cd, de durch eine proportionirte Zeichnung in die ungleichen Theile AB, BC, CD, DE, ausdehnen. Wird nun die ſolchergeſtalt verzerrte Figur AE auf ein Bret gelegt, auf welchem ein anderes Bret PQ ſenkrecht ſteht, und vom Auge durch die Oefnung O betrachtet, ſo verliert der Zuſchauer die Gegenſtaͤnde aus dem Auge, die ihm einen Maaßſtab der Entfernungen OE, OD, OC, rc. geben koͤnnen. Es wirkt das verzerrte Bild AE jetzt nicht anders auf ſein Auge, als das regelmaͤßige, in Ae aufgeſtellt, darauf wirken wuͤrde. Seine Einbildungskraft ſelbſt wird geſchaͤftig, ſich eher ein regelmaͤßiges, als ein verzerrtes Bild darzuſtellen; er glaubt alſo eine in Ae aufgeſtellte richtige Zeichnung zu ſehen. So hat man verzerrte Figuren, in welchen z. B. Kopf und Schultern durch ED ausgedehnt und ungeheuer groß, die uͤbrigen Theile des Koͤrpers von D bis A ſehr klein ſind, die ſich aber, aus O betrachtet, ganz richtig darſtellen. Nach Briſſon (Dictionnaire raiſonné de phyſique; Art. Anamorphoſe) ſind an der Wand einer Gallerie im Minimenkloſter an der Place royale in Paris verſchiedene Bilder gemahlt, welche, aus einem gewiſſen Geſichtspunkte von der Seite her betrachtet, ſehr deutlich eine reuige Magdalene darſtellen.

Hieher gehoͤren auch die Bilder, welche in Streifen zerſchnitten und Streifenweis auf die Seitenflaͤchen mehrerer neben einander ſtehenden dreyſeitigen Prismen aufgeklebt werden, da man denn ein anderes Bild ſieht, je nachdem man dieſe Prismen von der rechten oder linken Seite her betrachtet. Von dieſen Bildern, die man oft in Kunſtkabinetten antrift, handeln Schwenter (Mathematiſche Erquickſtunden, Nuͤrnb. 1651. 4. Th. I. S. 271.) und Wolf (Elementa Optices. Probl. 28.).

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0113" xml:id="P.1.99" n="99"/><lb/>
ge&#x017F;tellte Auge &#x017F;o ta&#x0364;u&#x017F;chen, daß es von den wahren Entfernungen der Punkte <hi rendition="#aq">A, B, C, D, E,</hi> keine Eindru&#x0364;cke erha&#x0364;lt, und daß daher die liegende Linie <hi rendition="#aq">ABCDE</hi> eben &#x017F;o, wie eine &#x017F;tehende <hi rendition="#aq">Abcde,</hi> von dem Zu&#x017F;chauer empfunden wird, &#x017F;o darf man nur die gleichen Theile eines regelma&#x0364;ßig gezeichneten Bildes <hi rendition="#aq">Ab, bc, cd, de</hi> durch eine proportionirte Zeichnung in die ungleichen Theile <hi rendition="#aq">AB, BC, CD, DE,</hi> ausdehnen. Wird nun die &#x017F;olcherge&#x017F;talt verzerrte Figur <hi rendition="#aq">AE</hi> auf ein Bret gelegt, auf welchem ein anderes Bret <hi rendition="#aq">PQ</hi> &#x017F;enkrecht &#x017F;teht, und vom Auge durch die Oefnung <hi rendition="#aq">O</hi> betrachtet, &#x017F;o verliert der Zu&#x017F;chauer die Gegen&#x017F;ta&#x0364;nde aus dem Auge, die ihm einen Maaß&#x017F;tab der Entfernungen <hi rendition="#aq">OE, OD, OC,</hi> rc. geben ko&#x0364;nnen. Es wirkt das verzerrte Bild <hi rendition="#aq">AE</hi> jetzt nicht anders auf &#x017F;ein Auge, als das regelma&#x0364;ßige, in <hi rendition="#aq">Ae</hi> aufge&#x017F;tellt, darauf wirken wu&#x0364;rde. Seine Einbildungskraft &#x017F;elb&#x017F;t wird ge&#x017F;cha&#x0364;ftig, &#x017F;ich eher ein regelma&#x0364;ßiges, als ein verzerrtes Bild darzu&#x017F;tellen; er glaubt al&#x017F;o eine in <hi rendition="#aq">Ae</hi> aufge&#x017F;tellte richtige Zeichnung zu &#x017F;ehen. So hat man verzerrte Figuren, in welchen z. B. Kopf und Schultern durch <hi rendition="#aq">ED</hi> ausgedehnt und ungeheuer groß, die u&#x0364;brigen Theile des Ko&#x0364;rpers von <hi rendition="#aq">D</hi> bis <hi rendition="#aq">A</hi> &#x017F;ehr klein &#x017F;ind, die &#x017F;ich aber, aus <hi rendition="#aq">O</hi> betrachtet, ganz richtig dar&#x017F;tellen. Nach <hi rendition="#b">Bri&#x017F;&#x017F;on</hi> <hi rendition="#aq">(Dictionnaire rai&#x017F;onné de phy&#x017F;ique; Art. <hi rendition="#i">Anamorpho&#x017F;e</hi>)</hi> &#x017F;ind an der Wand einer Gallerie im Minimenklo&#x017F;ter an der Place royale in Paris ver&#x017F;chiedene Bilder gemahlt, welche, aus einem gewi&#x017F;&#x017F;en Ge&#x017F;ichtspunkte von der Seite her betrachtet, &#x017F;ehr deutlich eine reuige Magdalene dar&#x017F;tellen.</p>
          <p>Hieher geho&#x0364;ren auch die Bilder, welche in Streifen zer&#x017F;chnitten und Streifenweis auf die Seitenfla&#x0364;chen mehrerer neben einander &#x017F;tehenden drey&#x017F;eitigen Prismen aufgeklebt werden, da man denn ein anderes Bild &#x017F;ieht, je nachdem man die&#x017F;e Prismen von der rechten oder linken Seite her betrachtet. Von die&#x017F;en Bildern, die man oft in Kun&#x017F;tkabinetten antrift, handeln <hi rendition="#b">Schwenter</hi> (Mathemati&#x017F;che Erquick&#x017F;tunden, Nu&#x0364;rnb. 1651. 4. Th. <hi rendition="#aq">I.</hi> S. 271.) und <hi rendition="#b">Wolf</hi> <hi rendition="#aq">(Elementa Optices. Probl. 28.).</hi><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[99/0113] geſtellte Auge ſo taͤuſchen, daß es von den wahren Entfernungen der Punkte A, B, C, D, E, keine Eindruͤcke erhaͤlt, und daß daher die liegende Linie ABCDE eben ſo, wie eine ſtehende Abcde, von dem Zuſchauer empfunden wird, ſo darf man nur die gleichen Theile eines regelmaͤßig gezeichneten Bildes Ab, bc, cd, de durch eine proportionirte Zeichnung in die ungleichen Theile AB, BC, CD, DE, ausdehnen. Wird nun die ſolchergeſtalt verzerrte Figur AE auf ein Bret gelegt, auf welchem ein anderes Bret PQ ſenkrecht ſteht, und vom Auge durch die Oefnung O betrachtet, ſo verliert der Zuſchauer die Gegenſtaͤnde aus dem Auge, die ihm einen Maaßſtab der Entfernungen OE, OD, OC, rc. geben koͤnnen. Es wirkt das verzerrte Bild AE jetzt nicht anders auf ſein Auge, als das regelmaͤßige, in Ae aufgeſtellt, darauf wirken wuͤrde. Seine Einbildungskraft ſelbſt wird geſchaͤftig, ſich eher ein regelmaͤßiges, als ein verzerrtes Bild darzuſtellen; er glaubt alſo eine in Ae aufgeſtellte richtige Zeichnung zu ſehen. So hat man verzerrte Figuren, in welchen z. B. Kopf und Schultern durch ED ausgedehnt und ungeheuer groß, die uͤbrigen Theile des Koͤrpers von D bis A ſehr klein ſind, die ſich aber, aus O betrachtet, ganz richtig darſtellen. Nach Briſſon (Dictionnaire raiſonné de phyſique; Art. Anamorphoſe) ſind an der Wand einer Gallerie im Minimenkloſter an der Place royale in Paris verſchiedene Bilder gemahlt, welche, aus einem gewiſſen Geſichtspunkte von der Seite her betrachtet, ſehr deutlich eine reuige Magdalene darſtellen. Hieher gehoͤren auch die Bilder, welche in Streifen zerſchnitten und Streifenweis auf die Seitenflaͤchen mehrerer neben einander ſtehenden dreyſeitigen Prismen aufgeklebt werden, da man denn ein anderes Bild ſieht, je nachdem man dieſe Prismen von der rechten oder linken Seite her betrachtet. Von dieſen Bildern, die man oft in Kunſtkabinetten antrift, handeln Schwenter (Mathematiſche Erquickſtunden, Nuͤrnb. 1651. 4. Th. I. S. 271.) und Wolf (Elementa Optices. Probl. 28.).

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Bibliothek des Max-Planck-Instituts für Wissenschaftsgeschichte : Bereitstellung der Texttranskription. (2015-09-02T12:13:09Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Matthias Boenig: Bearbeitung der digitalen Edition. (2015-09-02T12:13:09Z)

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: keine Angabe; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): keine Angabe; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: keine Angabe; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine Angabe; rundes r (&#xa75b;): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: keine Angabe; Zeichensetzung: keine Angabe; Zeilenumbrüche markiert: nein;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/gehler_woerterbuch01_1798
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/gehler_woerterbuch01_1798/113
Zitationshilfe: Gehler, Johann Samuel Traugott: Physikalisches Wörterbuch, oder, Versuch einer Erklärung der vornehmsten Begriffe und Kunstwörter der Naturlehre. Bd. 1. Leipzig, 1798, S. 99. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gehler_woerterbuch01_1798/113>, abgerufen am 02.05.2024.