Garve, Christian: Sammlung einiger Abhandlungen. Leipzig, 1779.

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der Fähigkeiten.

nicht bloße Wiederholungen eines einzigen sind.
Von zwey Menschen, die durchaus einerley über
eine gewisse Materie denken, hat gewiß nur Einer
oder gar keiner gedacht; es muß ihnen ein frem-
des Gepräge seyn aufgedrückt worden, ihre eigne
Gestalt würde Unähnlichkeiten haben. Ein jun-
ger Mensch also, bey dem sich die Fähigkeit des
Nachdenkens zuerst entwickelt, wird seines Lehrers
Untersuchung mehr zur Gelegenheit als zum Mu-
ster seiner eignen brauchen. Wenn er mit ihm
zusammentrifft, so wird er die nunmehr erlernten
Begriffe als die seinigen mit dem vollen Bewußt-
seyn des Eigenthums annehmen und bewahren;
wenn er von ihm abgeht, so wird er eben so dreist
verwerfen, und wenn man ihn belehren will, reich
an Zweifeln und Einwürfen seyn. Man sieht so
oft, daß gute junge Köpfe streitsüchtige Köpfe
sind. Wenn dieser Widerspruch die Folge von
wirklich angestellten Untersuchungen, und nicht die
Absicht derselben ist: wenn er bloß von einer
freyen und durch kein Ansehen des Lehrers einge-
schränkten Beurtheilung herrührt, ohne zuvor

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der Faͤhigkeiten.

nicht bloße Wiederholungen eines einzigen ſind.
Von zwey Menſchen, die durchaus einerley uͤber
eine gewiſſe Materie denken, hat gewiß nur Einer
oder gar keiner gedacht; es muß ihnen ein frem-
des Gepraͤge ſeyn aufgedruͤckt worden, ihre eigne
Geſtalt wuͤrde Unaͤhnlichkeiten haben. Ein jun-
ger Menſch alſo, bey dem ſich die Faͤhigkeit des
Nachdenkens zuerſt entwickelt, wird ſeines Lehrers
Unterſuchung mehr zur Gelegenheit als zum Mu-
ſter ſeiner eignen brauchen. Wenn er mit ihm
zuſammentrifft, ſo wird er die nunmehr erlernten
Begriffe als die ſeinigen mit dem vollen Bewußt-
ſeyn des Eigenthums annehmen und bewahren;
wenn er von ihm abgeht, ſo wird er eben ſo dreiſt
verwerfen, und wenn man ihn belehren will, reich
an Zweifeln und Einwuͤrfen ſeyn. Man ſieht ſo
oft, daß gute junge Koͤpfe ſtreitſuͤchtige Koͤpfe
ſind. Wenn dieſer Widerſpruch die Folge von
wirklich angeſtellten Unterſuchungen, und nicht die
Abſicht derſelben iſt: wenn er bloß von einer
freyen und durch kein Anſehen des Lehrers einge-
ſchraͤnkten Beurtheilung herruͤhrt, ohne zuvor

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[73/0079] der Faͤhigkeiten. nicht bloße Wiederholungen eines einzigen ſind. Von zwey Menſchen, die durchaus einerley uͤber eine gewiſſe Materie denken, hat gewiß nur Einer oder gar keiner gedacht; es muß ihnen ein frem- des Gepraͤge ſeyn aufgedruͤckt worden, ihre eigne Geſtalt wuͤrde Unaͤhnlichkeiten haben. Ein jun- ger Menſch alſo, bey dem ſich die Faͤhigkeit des Nachdenkens zuerſt entwickelt, wird ſeines Lehrers Unterſuchung mehr zur Gelegenheit als zum Mu- ſter ſeiner eignen brauchen. Wenn er mit ihm zuſammentrifft, ſo wird er die nunmehr erlernten Begriffe als die ſeinigen mit dem vollen Bewußt- ſeyn des Eigenthums annehmen und bewahren; wenn er von ihm abgeht, ſo wird er eben ſo dreiſt verwerfen, und wenn man ihn belehren will, reich an Zweifeln und Einwuͤrfen ſeyn. Man ſieht ſo oft, daß gute junge Koͤpfe ſtreitſuͤchtige Koͤpfe ſind. Wenn dieſer Widerſpruch die Folge von wirklich angeſtellten Unterſuchungen, und nicht die Abſicht derſelben iſt: wenn er bloß von einer freyen und durch kein Anſehen des Lehrers einge- ſchraͤnkten Beurtheilung herruͤhrt, ohne zuvor E 5

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Zitationshilfe:	Garve, Christian: Sammlung einiger Abhandlungen. Leipzig, 1779, S. 73. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/garve_sammlung_1779/79>, abgerufen am 05.05.2024.

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