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Garve, Christian: Sammlung einiger Abhandlungen. Leipzig, 1779.

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Ueber die Prüfung
was zu wissen. Wenn er seine Erzählungen mit
etwas Witz vermischt, wenn er noch dabey den
Leidenschaften der Anwesenden zu schmeicheln, und
ihre Gesinnungen gegen die Personen, von denen
er spricht, zu errathen und anzunehmen weiß, so
ist er vollkommen. Und dieß ist gerade alles das,
was unserm Manne fehlt. Er hat nicht den Be-
merkungsgeist, um sich von so viel Kleinigkeiten,
als dabey nöthig sind, zu unterrichten; nicht das
Gedächtniß, sie sich einzuprägen; nicht die Ein-
bildungskraft, um sie vorzutragen; endlich nicht
die praktische Urtheilskraft, ob das, was er sagt,
den Personen, die es hören, angenehm oder ver-
drüßlich seyn werde.

Aber eben aus diesem Geiste der Zergliede-
rung folgt, daß, wenn sich dieser Kopf einmal
entwickelt hat, er sich durch seine Werke weit rich-
tiger abmessen läßt. Er wird das, was er weiß,
allemal ausdrücken und mittheilen können. Sei-
ne Begriffe müssen schlechterdings entweder völ-
lig entwickelt oder dunkel seyn. Die bloße Klar-
heit des Anschauens, die die Gegenstände in der

Ueber die Pruͤfung
was zu wiſſen. Wenn er ſeine Erzaͤhlungen mit
etwas Witz vermiſcht, wenn er noch dabey den
Leidenſchaften der Anweſenden zu ſchmeicheln, und
ihre Geſinnungen gegen die Perſonen, von denen
er ſpricht, zu errathen und anzunehmen weiß, ſo
iſt er vollkommen. Und dieß iſt gerade alles das,
was unſerm Manne fehlt. Er hat nicht den Be-
merkungsgeiſt, um ſich von ſo viel Kleinigkeiten,
als dabey noͤthig ſind, zu unterrichten; nicht das
Gedaͤchtniß, ſie ſich einzupraͤgen; nicht die Ein-
bildungskraft, um ſie vorzutragen; endlich nicht
die praktiſche Urtheilskraft, ob das, was er ſagt,
den Perſonen, die es hoͤren, angenehm oder ver-
druͤßlich ſeyn werde.

Aber eben aus dieſem Geiſte der Zergliede-
rung folgt, daß, wenn ſich dieſer Kopf einmal
entwickelt hat, er ſich durch ſeine Werke weit rich-
tiger abmeſſen laͤßt. Er wird das, was er weiß,
allemal ausdruͤcken und mittheilen koͤnnen. Sei-
ne Begriffe muͤſſen ſchlechterdings entweder voͤl-
lig entwickelt oder dunkel ſeyn. Die bloße Klar-
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[66/0072] Ueber die Pruͤfung was zu wiſſen. Wenn er ſeine Erzaͤhlungen mit etwas Witz vermiſcht, wenn er noch dabey den Leidenſchaften der Anweſenden zu ſchmeicheln, und ihre Geſinnungen gegen die Perſonen, von denen er ſpricht, zu errathen und anzunehmen weiß, ſo iſt er vollkommen. Und dieß iſt gerade alles das, was unſerm Manne fehlt. Er hat nicht den Be- merkungsgeiſt, um ſich von ſo viel Kleinigkeiten, als dabey noͤthig ſind, zu unterrichten; nicht das Gedaͤchtniß, ſie ſich einzupraͤgen; nicht die Ein- bildungskraft, um ſie vorzutragen; endlich nicht die praktiſche Urtheilskraft, ob das, was er ſagt, den Perſonen, die es hoͤren, angenehm oder ver- druͤßlich ſeyn werde. Aber eben aus dieſem Geiſte der Zergliede- rung folgt, daß, wenn ſich dieſer Kopf einmal entwickelt hat, er ſich durch ſeine Werke weit rich- tiger abmeſſen laͤßt. Er wird das, was er weiß, allemal ausdruͤcken und mittheilen koͤnnen. Sei- ne Begriffe muͤſſen ſchlechterdings entweder voͤl- lig entwickelt oder dunkel ſeyn. Die bloße Klar- heit des Anſchauens, die die Gegenſtaͤnde in der

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Zitationshilfe: Garve, Christian: Sammlung einiger Abhandlungen. Leipzig, 1779, S. 66. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/garve_sammlung_1779/72>, abgerufen am 05.05.2024.