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Garve, Christian: Sammlung einiger Abhandlungen. Leipzig, 1779.

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Ueber die Prüfung

Man hat angemerkt, daß eine sehr große
Richtigkeit und Correction in den Werken des ju-
gendlichen Witzes gemeiniglich das Zeichen eines
geringen Genies ist. Man könnte eben so über-
haupt ein zu frühzeitiges Nachdenken und abstracte
Betrachtungen zu einer Zeit, wo die Seele noch
mehr empfinden als denken sollte, zum Zeichen ei-
ner schwächern Seele annehmen. Nach der Ord-
nung der Natur entwickelt sich die Einbildungs-
kraft zuerst, der Verstand hernach. So wie also
bey gewissen Körpern, die zu schnell zur Reife kom-
men, der Bau schwach und die Kraft klein ist: so
sind die Seelen, die nicht mit der gehörigen Lang-
samkeit eine Fähigkeit nach der andern entwickelt
und ausgebildet haben, beständig mittelmäßig.
Ein Kind also, welches von einer schönen Fabel
entzückt wird, und bey einem eben so schönen Be-
weise gähnt; das voll Munterkeit und Aufmerk-
samkeit ist, wann es die Geschichte auf einem gu-
ten Kupferstiche oder Gemälde erklären hört, und
verdrossen und zerstreut wird, sobald man ihm all-
gemeine Wahrheiten vorträgt; das in seinen

Ueber die Pruͤfung

Man hat angemerkt, daß eine ſehr große
Richtigkeit und Correction in den Werken des ju-
gendlichen Witzes gemeiniglich das Zeichen eines
geringen Genies iſt. Man koͤnnte eben ſo uͤber-
haupt ein zu fruͤhzeitiges Nachdenken und abſtracte
Betrachtungen zu einer Zeit, wo die Seele noch
mehr empfinden als denken ſollte, zum Zeichen ei-
ner ſchwaͤchern Seele annehmen. Nach der Ord-
nung der Natur entwickelt ſich die Einbildungs-
kraft zuerſt, der Verſtand hernach. So wie alſo
bey gewiſſen Koͤrpern, die zu ſchnell zur Reife kom-
men, der Bau ſchwach und die Kraft klein iſt: ſo
ſind die Seelen, die nicht mit der gehoͤrigen Lang-
ſamkeit eine Faͤhigkeit nach der andern entwickelt
und ausgebildet haben, beſtaͤndig mittelmaͤßig.
Ein Kind alſo, welches von einer ſchoͤnen Fabel
entzuͤckt wird, und bey einem eben ſo ſchoͤnen Be-
weiſe gaͤhnt; das voll Munterkeit und Aufmerk-
ſamkeit iſt, wann es die Geſchichte auf einem gu-
ten Kupferſtiche oder Gemaͤlde erklaͤren hoͤrt, und
verdroſſen und zerſtreut wird, ſobald man ihm all-
gemeine Wahrheiten vortraͤgt; das in ſeinen

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[46/0052] Ueber die Pruͤfung Man hat angemerkt, daß eine ſehr große Richtigkeit und Correction in den Werken des ju- gendlichen Witzes gemeiniglich das Zeichen eines geringen Genies iſt. Man koͤnnte eben ſo uͤber- haupt ein zu fruͤhzeitiges Nachdenken und abſtracte Betrachtungen zu einer Zeit, wo die Seele noch mehr empfinden als denken ſollte, zum Zeichen ei- ner ſchwaͤchern Seele annehmen. Nach der Ord- nung der Natur entwickelt ſich die Einbildungs- kraft zuerſt, der Verſtand hernach. So wie alſo bey gewiſſen Koͤrpern, die zu ſchnell zur Reife kom- men, der Bau ſchwach und die Kraft klein iſt: ſo ſind die Seelen, die nicht mit der gehoͤrigen Lang- ſamkeit eine Faͤhigkeit nach der andern entwickelt und ausgebildet haben, beſtaͤndig mittelmaͤßig. Ein Kind alſo, welches von einer ſchoͤnen Fabel entzuͤckt wird, und bey einem eben ſo ſchoͤnen Be- weiſe gaͤhnt; das voll Munterkeit und Aufmerk- ſamkeit iſt, wann es die Geſchichte auf einem gu- ten Kupferſtiche oder Gemaͤlde erklaͤren hoͤrt, und verdroſſen und zerſtreut wird, ſobald man ihm all- gemeine Wahrheiten vortraͤgt; das in ſeinen

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Zitationshilfe: Garve, Christian: Sammlung einiger Abhandlungen. Leipzig, 1779, S. 46. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/garve_sammlung_1779/52>, abgerufen am 05.05.2024.