schichte, so gräßliche Ausbrüche der Wuth ver- tragen, sie sahen lieber eine Medea, die, wenn gleich durch Grausamkeiten, sich über ihr Un- glück erhebt, als eine Niobe, die weinend unter demselben zu Boden sinkt. Dieses scheint der Fall bey uns zu seyn; wir wollen mehr wehmü- thige als starke Empfindungen sehen; ein Fei- ger, der aber sonst ein guter Mann und un- glücklich ist, findet mehr Mitleiden, als ein Tapferer, der durch das Unglück wild und un- bändig worden. Dieß kömmt also daher, weil der männliche Geist die muthige Widersetzung des Zornigen billiget, und die Ohnmacht des Niedergeschlagenen verachtet; der weibliche Cha- rakter hingegen den Ungestüm des Zorns scheuet, und hingegen das Sanfte der Betrübniß gut heißt. Dieß hängt also mit der Sympathie der moralischen Empfindungen zusammen, und da- von werden wir gleich reden.
4) An allen glücklichen und unglücklichen Vorfällen andrer Menschen können wir mehr An- theil nehmen, wann sie erwartet werden, als
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uͤber das Intereſſirende.
ſchichte, ſo graͤßliche Ausbruͤche der Wuth ver- tragen, ſie ſahen lieber eine Medea, die, wenn gleich durch Grauſamkeiten, ſich uͤber ihr Un- gluͤck erhebt, als eine Niobe, die weinend unter demſelben zu Boden ſinkt. Dieſes ſcheint der Fall bey uns zu ſeyn; wir wollen mehr wehmuͤ- thige als ſtarke Empfindungen ſehen; ein Fei- ger, der aber ſonſt ein guter Mann und un- gluͤcklich iſt, findet mehr Mitleiden, als ein Tapferer, der durch das Ungluͤck wild und un- baͤndig worden. Dieß koͤmmt alſo daher, weil der maͤnnliche Geiſt die muthige Widerſetzung des Zornigen billiget, und die Ohnmacht des Niedergeſchlagenen verachtet; der weibliche Cha- rakter hingegen den Ungeſtuͤm des Zorns ſcheuet, und hingegen das Sanfte der Betruͤbniß gut heißt. Dieß haͤngt alſo mit der Sympathie der moraliſchen Empfindungen zuſammen, und da- von werden wir gleich reden.
4) An allen gluͤcklichen und ungluͤcklichen Vorfaͤllen andrer Menſchen koͤnnen wir mehr An- theil nehmen, wann ſie erwartet werden, als
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uͤber das Intereſſirende.
ſchichte, ſo graͤßliche Ausbruͤche der Wuth ver-
tragen, ſie ſahen lieber eine Medea, die, wenn
gleich durch Grauſamkeiten, ſich uͤber ihr Un-
gluͤck erhebt, als eine Niobe, die weinend unter
demſelben zu Boden ſinkt. Dieſes ſcheint der
Fall bey uns zu ſeyn; wir wollen mehr wehmuͤ-
thige als ſtarke Empfindungen ſehen; ein Fei-
ger, der aber ſonſt ein guter Mann und un-
gluͤcklich iſt, findet mehr Mitleiden, als ein
Tapferer, der durch das Ungluͤck wild und un-
baͤndig worden. Dieß koͤmmt alſo daher, weil
der maͤnnliche Geiſt die muthige Widerſetzung
des Zornigen billiget, und die Ohnmacht des
Niedergeſchlagenen verachtet; der weibliche Cha-
rakter hingegen den Ungeſtuͤm des Zorns ſcheuet,
und hingegen das Sanfte der Betruͤbniß gut
heißt. Dieß haͤngt alſo mit der Sympathie der
moraliſchen Empfindungen zuſammen, und da-
von werden wir gleich reden.
4) An allen gluͤcklichen und ungluͤcklichen
Vorfaͤllen andrer Menſchen koͤnnen wir mehr An-
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Garve, Christian: Sammlung einiger Abhandlungen. Leipzig, 1779, S. 327. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/garve_sammlung_1779/333>, abgerufen am 16.02.2025.
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