nur den Anblick des Guten brauchen, sondern daß sie auch den Verstand und das Herz gemeiner Menschen einnähmen, die überredet und in Lei- denschaft gesetzt seyn wollen, und die also bey ih- rem Lehrer Beredsamkeit fodern: wäre Gellerts Moral nicht immer noch eines unserer brauchbar- sten Bücher? Und hätte es wohl diese Brauchbar- keit behalten, wenn die Erklärungen schärfer und kürzer, die Beweise strenger, die Untersuchungen tiefsinniger, der Vortrag wissenschaftlicher wäre? Jetzo mag vielleicht der Gelehrte und der Philo- soph weniger neuen Unterricht daraus schöpfen, vielleicht der Mann, der schon viel gedacht und gelesen hat, weniger Nahrung darinnen finden: aber die weit größere Anzahl vernünftiger, aber nicht gelehrter Hausväter und Hausmütter wird sich aus diesem Buche unterrichten und er- bauen.
Unterdessen, wenn auch dieses Buch nicht ei- gentlich zur Bereicherung der Moral als Wissen- schaft, sondern zur Ausbreitung derselben als ei- nes gemeinschaftlichen Gutes der Menschheit be-
Anmerkungen uͤber Gellerts Moral,
nur den Anblick des Guten brauchen, ſondern daß ſie auch den Verſtand und das Herz gemeiner Menſchen einnaͤhmen, die uͤberredet und in Lei- denſchaft geſetzt ſeyn wollen, und die alſo bey ih- rem Lehrer Beredſamkeit fodern: waͤre Gellerts Moral nicht immer noch eines unſerer brauchbar- ſten Buͤcher? Und haͤtte es wohl dieſe Brauchbar- keit behalten, wenn die Erklaͤrungen ſchaͤrfer und kuͤrzer, die Beweiſe ſtrenger, die Unterſuchungen tiefſinniger, der Vortrag wiſſenſchaftlicher waͤre? Jetzo mag vielleicht der Gelehrte und der Philo- ſoph weniger neuen Unterricht daraus ſchoͤpfen, vielleicht der Mann, der ſchon viel gedacht und geleſen hat, weniger Nahrung darinnen finden: aber die weit groͤßere Anzahl vernuͤnftiger, aber nicht gelehrter Hausvaͤter und Hausmuͤtter wird ſich aus dieſem Buche unterrichten und er- bauen.
Unterdeſſen, wenn auch dieſes Buch nicht ei- gentlich zur Bereicherung der Moral als Wiſſen- ſchaft, ſondern zur Ausbreitung derſelben als ei- nes gemeinſchaftlichen Gutes der Menſchheit be-
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Anmerkungen uͤber Gellerts Moral,
nur den Anblick des Guten brauchen, ſondern daß
ſie auch den Verſtand und das Herz gemeiner
Menſchen einnaͤhmen, die uͤberredet und in Lei-
denſchaft geſetzt ſeyn wollen, und die alſo bey ih-
rem Lehrer Beredſamkeit fodern: waͤre Gellerts
Moral nicht immer noch eines unſerer brauchbar-
ſten Buͤcher? Und haͤtte es wohl dieſe Brauchbar-
keit behalten, wenn die Erklaͤrungen ſchaͤrfer und
kuͤrzer, die Beweiſe ſtrenger, die Unterſuchungen
tiefſinniger, der Vortrag wiſſenſchaftlicher waͤre?
Jetzo mag vielleicht der Gelehrte und der Philo-
ſoph weniger neuen Unterricht daraus ſchoͤpfen,
vielleicht der Mann, der ſchon viel gedacht und
geleſen hat, weniger Nahrung darinnen finden:
aber die weit groͤßere Anzahl vernuͤnftiger, aber
nicht gelehrter Hausvaͤter und Hausmuͤtter wird
ſich aus dieſem Buche unterrichten und er-
bauen.
Unterdeſſen, wenn auch dieſes Buch nicht ei-
gentlich zur Bereicherung der Moral als Wiſſen-
ſchaft, ſondern zur Ausbreitung derſelben als ei-
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Garve, Christian: Sammlung einiger Abhandlungen. Leipzig, 1779, S. 210. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/garve_sammlung_1779/216>, abgerufen am 16.02.2025.
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