Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Garve, Christian: Sammlung einiger Abhandlungen. Leipzig, 1779.

Bild:
<< vorherige Seite

Anmerkungen über Gellerts Moral,
nung zusammensetzt; der Witz neue, aber keine
sehr versteckte Aehnlichkeit aufsucht; und wenn
alle diese Fähigkeiten in einer Sprache sich aus-
drücken, die rein, anständig, gewählt, und doch
nicht zu ausgesucht fremd und künstlich ist: dann
wird das, was durch die Vereinigung so vieler
sich im Gleichgewichte haltenden Kräfte ist hervor-
gebracht worden, auch einen sehr zusammengesetz-
ten Eindruck auf die Seele der übrigen machen;
es wird für jede Klasse von Lesern eine Seite ha-
ben, die ihrem Kopfe und ihrem Geschmacke ge-
mäß ist: und so wird es auch von allen Klassen
geschätzt und geliebt werden. Dieß, deucht uns,
ist der Charakter der Gellertschen Schriften. Sei-
ne Fabeln sind das Buch der Nation geworden;
man liest sie, wo man sonst nichts liest; jeder-
mann versteht sie, findet den Scherz, woran er
sich vergnügen, und die Wahrheit, die ihn bessern
soll. Und ist nicht eben in diesen Fabeln dieses
glückliche Gleichgewicht aller Gaben des Geistes
am meisten sichtbar? Sie enthalten viel Wahr-
heit und Philosophie, sowohl Beobachtungen über

Anmerkungen uͤber Gellerts Moral,
nung zuſammenſetzt; der Witz neue, aber keine
ſehr verſteckte Aehnlichkeit aufſucht; und wenn
alle dieſe Faͤhigkeiten in einer Sprache ſich aus-
druͤcken, die rein, anſtaͤndig, gewaͤhlt, und doch
nicht zu ausgeſucht fremd und kuͤnſtlich iſt: dann
wird das, was durch die Vereinigung ſo vieler
ſich im Gleichgewichte haltenden Kraͤfte iſt hervor-
gebracht worden, auch einen ſehr zuſammengeſetz-
ten Eindruck auf die Seele der uͤbrigen machen;
es wird fuͤr jede Klaſſe von Leſern eine Seite ha-
ben, die ihrem Kopfe und ihrem Geſchmacke ge-
maͤß iſt: und ſo wird es auch von allen Klaſſen
geſchaͤtzt und geliebt werden. Dieß, deucht uns,
iſt der Charakter der Gellertſchen Schriften. Sei-
ne Fabeln ſind das Buch der Nation geworden;
man lieſt ſie, wo man ſonſt nichts lieſt; jeder-
mann verſteht ſie, findet den Scherz, woran er
ſich vergnuͤgen, und die Wahrheit, die ihn beſſern
ſoll. Und iſt nicht eben in dieſen Fabeln dieſes
gluͤckliche Gleichgewicht aller Gaben des Geiſtes
am meiſten ſichtbar? Sie enthalten viel Wahr-
heit und Philoſophie, ſowohl Beobachtungen uͤber

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0210" n="204"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Anmerkungen u&#x0364;ber Gellerts Moral,</hi></fw><lb/>
nung zu&#x017F;ammen&#x017F;etzt; der Witz neue, aber keine<lb/>
&#x017F;ehr ver&#x017F;teckte Aehnlichkeit auf&#x017F;ucht; und wenn<lb/>
alle die&#x017F;e Fa&#x0364;higkeiten in einer Sprache &#x017F;ich aus-<lb/>
dru&#x0364;cken, die rein, an&#x017F;ta&#x0364;ndig, gewa&#x0364;hlt, und doch<lb/>
nicht zu ausge&#x017F;ucht fremd und ku&#x0364;n&#x017F;tlich i&#x017F;t: dann<lb/>
wird das, was durch die Vereinigung &#x017F;o vieler<lb/>
&#x017F;ich im Gleichgewichte haltenden Kra&#x0364;fte i&#x017F;t hervor-<lb/>
gebracht worden, auch einen &#x017F;ehr zu&#x017F;ammenge&#x017F;etz-<lb/>
ten Eindruck auf die Seele der u&#x0364;brigen machen;<lb/>
es wird fu&#x0364;r jede Kla&#x017F;&#x017F;e von Le&#x017F;ern eine Seite ha-<lb/>
ben, die ihrem Kopfe und ihrem Ge&#x017F;chmacke ge-<lb/>
ma&#x0364;ß i&#x017F;t: und &#x017F;o wird es auch von allen Kla&#x017F;&#x017F;en<lb/>
ge&#x017F;cha&#x0364;tzt und geliebt werden. Dieß, deucht uns,<lb/>
i&#x017F;t der Charakter der Gellert&#x017F;chen Schriften. Sei-<lb/>
ne Fabeln &#x017F;ind das Buch der Nation geworden;<lb/>
man lie&#x017F;t &#x017F;ie, wo man &#x017F;on&#x017F;t nichts lie&#x017F;t; jeder-<lb/>
mann ver&#x017F;teht &#x017F;ie, findet den Scherz, woran er<lb/>
&#x017F;ich vergnu&#x0364;gen, und die Wahrheit, die ihn be&#x017F;&#x017F;ern<lb/>
&#x017F;oll. Und i&#x017F;t nicht eben in die&#x017F;en Fabeln die&#x017F;es<lb/>
glu&#x0364;ckliche Gleichgewicht aller Gaben des Gei&#x017F;tes<lb/>
am mei&#x017F;ten &#x017F;ichtbar? Sie enthalten viel Wahr-<lb/>
heit und Philo&#x017F;ophie, &#x017F;owohl Beobachtungen u&#x0364;ber<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[204/0210] Anmerkungen uͤber Gellerts Moral, nung zuſammenſetzt; der Witz neue, aber keine ſehr verſteckte Aehnlichkeit aufſucht; und wenn alle dieſe Faͤhigkeiten in einer Sprache ſich aus- druͤcken, die rein, anſtaͤndig, gewaͤhlt, und doch nicht zu ausgeſucht fremd und kuͤnſtlich iſt: dann wird das, was durch die Vereinigung ſo vieler ſich im Gleichgewichte haltenden Kraͤfte iſt hervor- gebracht worden, auch einen ſehr zuſammengeſetz- ten Eindruck auf die Seele der uͤbrigen machen; es wird fuͤr jede Klaſſe von Leſern eine Seite ha- ben, die ihrem Kopfe und ihrem Geſchmacke ge- maͤß iſt: und ſo wird es auch von allen Klaſſen geſchaͤtzt und geliebt werden. Dieß, deucht uns, iſt der Charakter der Gellertſchen Schriften. Sei- ne Fabeln ſind das Buch der Nation geworden; man lieſt ſie, wo man ſonſt nichts lieſt; jeder- mann verſteht ſie, findet den Scherz, woran er ſich vergnuͤgen, und die Wahrheit, die ihn beſſern ſoll. Und iſt nicht eben in dieſen Fabeln dieſes gluͤckliche Gleichgewicht aller Gaben des Geiſtes am meiſten ſichtbar? Sie enthalten viel Wahr- heit und Philoſophie, ſowohl Beobachtungen uͤber

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/garve_sammlung_1779
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/garve_sammlung_1779/210
Zitationshilfe: Garve, Christian: Sammlung einiger Abhandlungen. Leipzig, 1779, S. 204. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/garve_sammlung_1779/210>, abgerufen am 23.11.2024.